Wie so viele Literaten hat auch Gottfried Benn Erfahrungen mit berauschenden Substanzen gesammelt und diese künstlerisch verarbeitet, insbesondere den Kokainkonsum wurde lyrisch erkundet. Eines dieser Gedichte ist mit "Cocain" betitelt (Gedicht weiter unten) und zeigt gleich zu Beginn die vordergründigste Funktion des Rausches für Benn: der Zerfall des Ichs. Das geschlossene Ich, d.h. eine Art nach außengetragene Persönlichkeit oder historisch materialistisch-fassbare Person, wird in der ersten Strophe gegen das Fremde, Unerwähnte ausgespielt, die Gebilde im Unterbau präsentieren sich hier als typisch sexualisierte Metaphern psychoanalytischer Denkweisen. Auch die zweite Strophe verfügt über ein ähnliches Vokulabur, so wird das Schwert gegen die Scheide ausgespielt, welches in einer Alliteration mündend sich im Tatendrang vollzieht.
Es kommt jedoch zur Unterbrechung, graphemisch durch einen doppelten Gedankenstrich ausgedrückt. Etwas gibt sich passiv dem idyllischen Orten (Heide) hin, deren räumliche Ausprägung immer wager wird. Die Beschreibung wird immer brüchiger, die folgende Strophe versucht eine Annäherung durch Auflistung und zeichnet das Bild von etwas, das kaum mehr wahrnehmbar scheint (glatt, klein, eben). In diesem Schwebezustand und Nullpunkt vollzieht sich der Umschwung ins Mysthische, das "Ur", das "Nicht-seine" taucht auf. Das Erscheinen ist jedoch nur momenthaft, ein Hauch, ein Hirnschauer, letztlich nur "Vorübergehn". Die letzte Strophe versucht es dann elliptisch doch noch zu fassen, wenngleich dies letztlich nur als nichtiger Griff nach der "Schwäre", dem Verwehten, Zerborstenen erscheint. Inmitten dieser Epiphanie kommt es zum Geburtsspruch, das "Entformte" soll (erneut?) geboren werden. Mehrdeutig bleibt dabei die vorletzte Stophe: Soll das Ich es gezielt verströmen oder es in seiner Auflösung (seinem eigenen Verströmen) Raum für es schaffen? Oder ist mit "Du" direkt das Andere, das Gegenüber bezeichnet, welches als notwendige Abgrenzung zur Ausformung der Person vorhanden sein muss und nun dialektisch aufgelöst werden soll?
Abseits dieser Frage zeigen sich in dem Gedicht auf der einen Seite interessante Blicke auf den Kokainrausch: die Auflösung der Alltagswahrnehmung, die Erfahrung mysthischer Zustände (beides wirkt konträr zu den heutigen Bild von Kokain als Egobooster und Lifestyledroge). Auf der anderen Seite die Schwierigkeit der Darstellung: ein schon graphemisch zerklüftetes Gedicht (auffällig die "wilde" Groß-Klein-Schreibung), das immer wieder in Aufzählungen und hermetischen Bildern aufgeht. Im Ganzen wirkt es wie eine Verschmelzung des Rausches mit der Ideenwelt Benns, oder ,vielleicht allgemeiner, seiner Zeit. In expressionistischer Manier offenbart sich ein subjektiver Blick auf den Verfall des Ichs, der wohl letztlich nur vom Drogenrausch verstärkt wird. Gewendet ist der Blick ganz auf das Ferne (verströmte, verwehte, zersprengte) hinfort vom stählernen, kriegerischen Tatmenschen Alltag. Dieses Ich hat keine Form mehr, steht in der Leere, und selbst das Andere, Du verströmt (in diesem Sinne vielleicht auch hier wieder als Spiegelmotiv lesbar, dessen Ich-Verdoppelung gewissermaßen in der Realität verfangen ist). Was bleibt ist das Ur Gefühl und die gezeichnete Ästhetik - frei nach Benn.
Cocain
Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,
Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh,
Schon ist der fremde Klang an unerwähnten
Gebilden meines Ichs am Unterbau.
Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide
Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun
Und stählern schlägt --: gesunken in die Heide,
Wo Hügel kaum enthüllter Formen ruhn!
Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben-
Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns
Das Ur, geballt, Nicht-seine beben
Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.
Zersprengtes Ich - o aufgetrunkene Schwäre -
Verwehte Fieber - süß zerborstene Wehr -:
Verströme, o verströme Du - gebäre
Blutbäuchig das Entformte her.
Gottfried Benn (1917) Quelle: http://www.kassiber.de/bennkokain.htm
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