Montag, 27. Oktober 2014

"Californication" (Showtime, USA 2007-2014) (I)

Die letzten Jahre eroberte eine Art Wiedergänger von Bukowskis Alter Ego Henry Chinaski den TV-Bildschirm: Hank Moody. Verkörpert von David Duchovny versucht dieser in der Serie Californication (Showtime, USA 2007-2014) als Schriftsteller in Los Angeles sowohl seine Karriere als auch diverse private Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Sein Organismus ist hierbei nahezu permanent von Alkohol und anderen Drogen durchtränkt, was im Ganzen seine Probleme eher vergrößert denn verringert. Die Serie liefert also jede Menge zum Nachdenken, beispielhaft möchte ich an dieser Stelle auf die sechste Staffel eingehen, welche Anfang 2013 in den USA ausgestrahlt wurde.
Die Staffel ist insofern interessant, als dass sie zu einer sehr differenten Darstellung des Drogenrausches kommt, wodurch sie sich in Teilen auch von den vorherigen Staffeln abgrenzt. So ist, verkürzt gesagt, gerade der Alkohol nicht nur eine der ältesten Drogen, sondern heutzutage in der westlichen Gesellschaft gleichzeitig sehr weit verbreitet und auch weitestgehend akzeptiert. Dem gegenüber steht das Bewusstsein der Problematik des Alkoholismus sowie die Ächtung in stark islamisch geprägten Ländern. Diese konträren Ansichten durchziehen auch Californication, wobei ich gerade in den frühen Staffel immer etwas das Gefühl habe, dass der Alkohol zwar auf der einen Seite die Probleme des Protagonisten verschärft, also ein tragisches Potential birgt, zugleich im Großen und Ganzen das Leben von Hank jedoch durchaus positiv dargestellt wird. So bleiben zwar seine familären und z.T. auch künstlerischen Krisen als Konstate über die Staffel hinweg erhalten, abseits davon lebt er jedoch ein kurzweiliges, hedonistisches Leben. So wird sein Alltag zumeist glorifiziert dargestellt, er ist ein Frauenheld im Stile Don Giovannis, inszeniert sich als lässiger Rebell gegen den schönen Schein Hollywoods und sein künstlerisches Talent ist zweifellos. Die negativen Momente sind also zumeist Umgeben vom kurzweiligen Leben, was auch als Kritik an Hollywood verstanden werden kann, in dessen Oberflächligkeit der Protagonist sich immer stärker verstrickt.
In diesem Sinne ergeben sich Ähnlichkeiten zu Bukowski: Der Protagonist leidet zwar auch an seinem Alkoholkonsum, gleichzeitig wird dieser aber als Artefakt des Außenseiters dargestellt, als Instrument dem spießen Leben zu entkommen. Der Rausch wird zum Akt des Widerstands, zumindest im Blick des Helden, der die dunklen Seiten resignativ gelassen hinnimmt. Die Darstellung des Rausches partizipiert hier immerzu an tradierten Künstleridealen: Der Rausch wird dem Künstler als Inspirationsmittel gestattet. Dieses verbindet sich dann bei Bukowski und Moody mit dem Motiv des Außenseiters, wird zur Betäubung, um die gesellschaftlichen Zustände zu ertragen und sich ihnen zu entziehen. Aufflackernde Momente wie die Impotenz Chinaskis oder die instabile Familienkonstruktion Moodys werden so zu Vorausdeutungen des tragischen Schicksals, als Bürde der Künstlerexistenz sind sie stoisch zu ertragen; die Frage nach Nüchternheit in letzter Konsequenz nicht denkbar. Diese Inszenierung des Alkoholrausches, wie ich sie in großen Teilen auch in Californication ausmachen würde, erleidet dann aber zu Beginn der sechsten Staffel ihren Schiffbruch:
Abbildung 1: Negative Konsequenzen des Alkoholmissbrauchs Hank Moodys. Quelle: Screenshots aus der sechsten Staffel von "Californication" (Showtime, USA 2007-2014), zusammengestellt von Henrik Wehmeier.
Abbildung 1 zeigt hier beispielhaft den Verfall Moodys, ausgelöst durch seinen ausschweifenden Alkoholismus. Er vernachlässigt seine Hygiene (ausgedrückt durch den Gesichtsausdrucks Charlies), kann sich nicht mehr selbst entkleiden und uriniert statt in die Toilette in eine Flasche, aus der er daraufhin irrtümlich trinkt. Sinnbildlich zeigen die Szenen also den Verfall des Heldens; er ist nicht mehr in der Lage, sein Leben selbstbestimmt zu führen und bewegt sich rasend auf den Untergang zu. Filmisch wird dies unter anderem durch die Köperhaltung Hanks ausgedrückt. Die weiten Einstellungen zeigen seinen ganzen Körper, der niedergeschlagen bzw. stark gekrümmt ist, in jedem Fall haltungslos. Der Versuch, diese körperliche Beugung durch die demonstrative Haltung beim Trinken zu vertuschen, persifliert sich durch den Konsum des eignen Urins selbst. Das Gesicht verzerrt sich, der Körper verliert erneut seine Spannung. Nebenbei bemerkt findet hier auch eine Wechsel der Charaktersierung statt: Ist es sonst in der Serie eher Charlie, der im klassischen Slapstick-Stil als kommödiantischer Gegenpol zum dominanten Hank fungiert, ist es in diesen Szenen Hank, der sich bloß stellt.
Abbildung 2: Hank zu Beginn seines Entzugs. Quelle: Screenshots aus der sechsten Staffel von "Californication" (Showtime, USA 2007-2014), zusammengestellt von Henrik Wehmeier.
Diese Bloßstellung, welche das Image des stoischen Außenseiters abstreift, findet seinen Höhepunkt mit dem Eintritt Hanks in eine Entzugsklinik. In Abbildung 2 erkennt man sein entstelltes Gesicht, dass im Kontrast zu dem vorher immerzu souverän auftretenden Frauenhelden steht, und auch die anschließende Totale präsentiert ihn als verloren. Inmitten einer weißen Umgebung und vor traumhafter Kulisse wirkt er, nur mit einer schwarzen Unterhose begleitet, wie ein Gefallener.
Zu diesem Zeitpunkt sollte also kein Zweifel mehr bestehen, was der Alkohol aus Hank gemacht hat. Inhaltlich ist dieser Niedergang durch die Geschehnisse in der vorherigen Staffel motiviert; Hank fühlt sich moralisch verantwortlich, da er seine Freundin harsch abservierte, deren Obsessivität sie daraufhin in eine fatale Lage führte. Dieser Funktionswandel des Alkoholkonsum könnte auch eine Erklärung für seine abweichende Darstellung sein: War er vorher ein Ausdrucks seines Widerstands gegen die Gesellschaft, wird er hier zum Mittel zur Kompensation des erlittenen Traumas, er verbindet sich also mit einer psychischen Disposition. Diese Erklärung würde dann wieder auf die zuvor beschriebene Inszenierung des Alkohols in Californication zurückweisen: Im Ganzen wird der Alkoholkonsum positiv dargestellt, lediglich in einzelnen Szenen kommt es zur kritischen Reflektion, deren Reichweite jedoch durch den Kurzschluss mit tieferliegenden Problemen stets begrenzt bleibt, in diesem Fall der psychischen Verletztung des Protagonisten.

Dienstag, 21. Oktober 2014

Charles Bukowski: "Post Office" (I)

Es war nur eine Frage der Zeit: Unumgänglich für die Beschäftigung mit Rausch ist der Schriftsteller Charles Bukowski, der in seinen oft autobiographisch geprägten Werken sein Alter Ego Henry Chinaski eine Unzahl an Alkoholräuschen erleben lässt. Diese Vereinigung von ewigem Außenseitertum und Alkoholsucht zeigt sich u.a. in dem Roman Post Office (Der Mann mit der Ledertasche). Neben der umfassenden Abrechnung mit der amerikanischen Post als Arbeitgeber handelt der Roman vom Alltag Chinaskis, dessen schier endloser Strom aus Trunkheit und Sex neben Besuchen auf der Rennbahn nur von den Tätigkeiten des Postausteilens bzw. später des Postsortierens unterbrochen wird.
In diesem Sinne nicht weiter verwunderlich, dass der obligatorische Kater zum ständigen Begleiter des Berufsalltages wird: "Ich hatte einen fürchterlichen Kater [...]" (Charles Bukowski: Der Mann mit der Ledertasche. 2. Auflage. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2006. S. 22.), "Ich war wieder verkatert [...]" (ebd. 42), "Nun, ich kam nach wie vor mit einem Kater zur Arbeit [...]" (ebd. 53) etc. Die Ursache hierfür ist denkbar naheliegend:

   "Als neuer Mann mußte man stets mit Überraschungen rechnen, vor allem, wenn man wie ich den  ganzen Abend soff, um zwei ins Bett ging, um halb fünf aufstand, nachdem man die ganze Nacht gevögelt und gesungen hatte [...]" (ebd. 22).

Aus dieser Kombination aus Arbeitsmoral und nächtlichem Exess ergeben sich Roman eine Unzahl an satirisch-ironisch überzeichneter Anekdoten, die den Schreibstil des Werkes prägen. In ihrer Leichtigkeit kontrastieren sie jedoch die harten Folgen des Alkoholismus. Der Ich-Erzähler spricht selbst meist nur von körperlichen Folgen, die er zum gleichen Anteil der anstrengenden Arbeit zuschreibt ("Whisky und Bier kamen aus allen Poren, flossen aus den Achselhöhlen, und ich quälte mich schwerbeladen dahin, als habe ich ein Kreuz auf dem Rücken [...]." ebd. 42). Dass der Alkohol längst das Leben des Helden beherrscht, zeigt sich an oft nur an kurzen Äußerungen: 

"Um sieben drehte sich Stone [Chinaskis Vorgesetzter] um. 
'Es gibt heute nichts für Sie, Chinaski.'
Ich stand auf und ging zur Tür. [...]
[...] Ich ging hinunter zum Spirituosengeschäft und kaufte mir eine kleine Flasche Whisky, Marke Grandad, zum Frühstück." (ebd. 36)

Der Alkohol strukturiert folglich den Tag Chinaskis, die Arbeit wird ausgeführt, um ihn zu finanzieren. Es drängt sich entsprechend die Frage auf, welche Funktion der Alkohol eigentlich im Roman einnimmt. Auf der einen Seite sicherlich als Ausdrucksmittel des Außenseitertums. Er verortet sich an den Gegenorten der Bürgerlichkeit: in abgeranzten Kneipen, auf der Pferderennbahn. Er ist die Revolte gegen die Eintönigkeit des bürgerlichen Lebens (wobei hier Bürgertum ganz allgemein das Nachgehen eines festes Jobs und die Verankerung in einer Familie meint), Ausdrucksmittel des Selbstauslebens in den Tag hinein.
Auf der anderen Seite ist er zugleich aber auch Symbol der Niedergangs, der Betäubung. Prototypisch offenbart sich dieses zweite Gesichts des Alkohols in einer anderen Szene:

"Vi [eine Gelegenheitsbekanntschaft Chinaskis] stand in der Küchentür.
'Trink ja nicht soviel! Du weißt, was wir zu tun haben!'
'Keine Angst, Baby, ich heb schon was für dich auf.' [...]
Im Bett brachte ich ihn zwar hoch, konnte aber damit nichts anfangen. Ich knüppelte und ich knüppelte und ich knüppelte. Vi war sehr geduldig. Ich mühte und plagte mich, aber ich hatte zuviel getrunken.
'Tur mir leid, Baby', sagte ich. Dann wälzte ich mich herunter und schlief ein. [...]
'Laß dir keine grauen Haare wachsen. Es lag nicht an dir. Es war der Alkohol. Es ist mir schon öfter passiert.'
'Na schön, aber du solltest dann eben nicht so viel trinken. Keine Frau läßt sich gern von einer Flasche versetzen.' (ebd. 131-133)

Als körperliche Dysfunktion tritt der Alkoholismus hier ganz konkret zwischen den Held und seine Umwelt, er verhindert die Vereinigung mit dem Anderen und stößt ihn in sich selbst zurück. Hiervon ist jede Beziehung von Chinaski zu seinen Mitmenschen betroffen: Es handelt sich immer um lose Bekannschaften, die meist nur durch Sex und gemeinsame Trinkexzesse zusammengehalten werden. So bleiben alle anderen Außenseiterfiguren, denen Chinaski begegnet, letztlich gescheiterte, in die eigene Leere stürzende Menschen. Beispielhaft dafür Betty: "Da war Wein, Wodka Whisky, Scotch. Die billigsten Sorten. Die Flaschen füllten das ganze Zimmer. [...] 'Wenn du das ganze Zeug hier trinkst, bist du tot!.' Betty blickte mich nur an. Ich erkannte alles in diesem Blick. [...] Ich beugte mich vor und küßte sie zum Abschied." (ebd. 118/119).
Es bleibt die Frage nach den Ursachen des Alkoholismus. So geht es hier sicherlich auch um Gesellschaftskritik, Chinaski bekommt zwar immer wieder verschiedene Postjobs angeboten, die allerdings (zumindest in seiner Schilderung) kaum menschenwürdig sind und letztlich kaum ohne Alkohol zu ertragen wären. Der Alkohol wäre in diesem Sinne die einzige Betäubung eines schmerzhaften Lebens, wobei der Alkoholkonsum zugleich zirkulär dazu führt, dieser Existenz niemals zu entkommen. Gleichzeitig verweist der lakonische Stil auf die Resignation, der Held erkennt in der Welt keine höheren Ziele, nach denen es zu Streben gilt, es gibt keine übergeordneten Instanzen, die ihm Sinn stiften können. Dieses erinnert an Siegfried Kracauers Feststellung der "transzendentalen Obdachtlosigkeit": Das Sein hat seine Metaerzählungen wie Relgion oder Ideologie verloren. Chinaski präsentiert sich als derjenige, der dieses durchschaut hat, und nicht wie alle anderen dem Irrtum obliegt, materieller Sicherheit wie dem eigenen Haus oder auch den neuen Kleidungsstücken eine Bedeutung zuzumessen, da sie letztlich nur leere Dinge in einer leeren Welt sind. Er gibt sich stattdessen ganz desillusioniert dem Hedionismus hin. Dass dieser Alkoholkonsum jedoch kaum noch etwas mit Befreiung zu tun hat als vielmehr zur fortschreitenden Betäubung und inneren Isolierung wird, wird von ihm zwar auf der einen Seite als Ich-Erzähler nicht wirklich kaschiert, Einsicht scheint aber im Gegenzug auch nicht erkennbar zu sein. Lediglich vielleicht in der letzten Szene, wenn er mit seinem Postjob die vermeintliche Ursache für seine Resignation aufkündigt.

Samstag, 18. Oktober 2014

UFC - Vice: "Hooligans"

Vor kurzem stieß ich auf einen Artikel des Magazins Vice über die Kultur der Hooligans in der Ukraine. Vice ist in letzter Zeit vielfach durch seinen oft subjektiven und reißerischen Stil aufgefallen, thematisch fällt die Wahl hier (erstaunlich) oft auf das Thema Drogen, weswegen das Magazin hier wohl noch des öfteren Beachtung finden wird. Der Artikel "Hooligan" befasst sich jedoch mit weniger mit Drogenrausch als vielmehr mit Blutrausch. Der Autor begleitete geraume Zeit verschiedene ukrainische Hooligangruppen und stellt nun neben deren Struktur gerade deren Einfluss auf die Jugend dar; es geht um Gewalt, Macht und letztlich um den Kampf um Anerkennung. Jenseits dieser eher soziologischen Fragen sind mir jedoch die Fotos zum Artikel aufgefallen, die mich stark an die Bilder der UFC erinnerten:
Abbildung 1: Gegenüberstellung Kampfszene Hooligans & UFC. Quellen: Oberes Bild: http://www.vice.com/de/read/hooligans-0000833-v10n9/?utm_source=vicefb (Fotograf: Andrew Lubimov); Unteres Bild:
Screenshot aus: "Top 20 Knockouts in UFC History" (Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=LWE79K2Ii-s); Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
 Beide Bilder zeigen einen beinah unkontrollierten Angriff: Der Kämpfer stürzt sich wild auf sein Gegenüber (wobei eingeschränkend erwähnt werden muss, dass ich nicht sagen kann, inwiefern das obere Bild inszeniert ist). Es zeigt sich eine Gemeinsamkeit der beiden Aktivitäten: Die klassische Sportregel, dass man einen am Boden liegenden Gegner nicht angreift, gibt es nicht. Hierdurch büßt man gewissermaßen einen natürlichen Schutzraum ein: Man muss seinen Körper bis zum Letzten aufs Spiel setzen. Es kommt zu einer archaischen Gegenüberstellung, die ungezähmten Kräfte prallen aufeinander, erst der Verlust des Bewusstseins (oder im UFC alternativ das Abklopfen) befördert einen nicht nur aus der Wachheit sondern auch aus der Gefahrenzone, d.h. aus dem Kampf. Durch dieses radikalen Riskieren des eigenen Körpers sind auch die Spuren des Kampfes - mindestens bei der Niederlage - nicht zu tilgen. Auch hier zeigt sich die Radikalität der beiden Aktivitäten:
Abbildung 2: Gegenüberstellung Kampfspuren Hooligans und UFC. Quellen: Obere beiden Bilder: http://www.vice.com/de/read/hooligans-0000833-v10n9/?utm_source=vicefb (Fotograf: Andrew Lubimov); Mittleres Bild:
Screenshot aus: "Top 20 Knockouts in UFC History" (Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=LWE79K2Ii-s); Unteres Bild: Screenshot aus " UFC Joe daddy stevensons nasty cut" (Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=eJYyCc3orNE); Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Der Kampf schreibt sich so unweigerlich in den Körper ein, wird zur lesbaren Spur; als Riss in der Haut, als Schwellung unter der Haut, als Deformation der Knochen. Und auch Blut gehört unausweichlich dazu, gerade bei der UFC scheint es kein unwesentlicher Faktor zu sein. Auf den ersten Blick erinnern diese wirklichen körperlichen Verletztungen sofort an die Diskurse zur Performativität; wenn etwa Hans-Thies Lehmann in seiner Abhandlung zum "Postdramatischen Theater" die Ästhetik des Risikos lobt: "Führt nicht jetzt schon die Mißachtung spontaner Regungen [...] zugunsten ökonomischer Zweckrationalität zu ebenso offensichtlichen wie unaufhaltsamen Desastern? Im Lichte dieser Beobachtung des fortschreitenden Ausfalls unmittelbar affektiver Reaktion fällt der Kultivierung des Afektiven, dem 'Training' einer von rationalen Vorerwägungen nicht gegängelten Emotionalität wachsende Bedeutung zu. Aufklärung allein reicht nicht aus." (Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. 5. Auflage. Verlag der Autoren: Frankfurt a.M. 1999. S. 472.)
Die Beschwörung des Realen, Wirklichen, wie es Lehmann hier in Bezug auf das Theater vollführen will, ist bekanntermaßen zu einem Bild in vielen gegenwartskritischen Theorien geworden. Die ökonomisierte und medialisierte Gegenwart wird zur Scheinwelt, die den Menschen ganz gefangen nimmt, Guy  Debord spricht von der "Gesellschaft des Spektakels", Jean Baudrillard von der Allgegenwärtigkeit des Simulacrums. Die riskanten Kämpfe der Hooligans bzw. der UFC könnten hier als Rückeroberung des Realen angesehen werden, als Einbruch der Wirklichkeit. Der Schmerz, das Blut, der Kampfrausch sind wirkliche Gefühle, nicht mehr nur virtuell erlebte, normierte Erlebnisse - ein Motiv, wie es im Roman bzw. Film Fight Club umfassend ausgeführt und probiert wird.
Passend dazu wird die UFC dann gerne als Gegenbild zum Wrestling gesehen, wirklicher Kampf trifft auf Theater, Performativität auf Inszenierung. Das reale Blut ist Garant dieser Unterscheidung, die übertriebene Härte Beweis, dass es hier etwas Reales zu erleben gibt, dessen Ausgang so offen ist, dass sich theoretisch sogar lebensbedrohliche Situationen ergeben können. Das ganze Geschehen findet immerzu an der Grenze des Erträglichen statt, wodurch es seine Authentizität erhält. Ähnlich bei den Hooligans, wo die Regelosigkeit des Ackers dem doppelten Boden des Rings gegenübersteht.
Das sind jetzt sicherlich sehr überzeichnete Kontraste und Klischees der jeweiligen Aktivitäten. Aber hierdurch lässt sich vielleicht der Reiz des Blutrausches erklären: er wird zum Gegenpol der Rationalität, zum Unkontrollierbaren innerhalb der immer schon geplanten, immer schon vorhersehbaren Welt. Und er kann eben nicht mehr nur gespielt werden, nicht mehr repräsentativ inszeniert werden. Vielmehr kann man nur Räume eröffnen, wo er sich ereignen kann. Und so ist eine Form des Auftretens eben auch das Zeigen: er zeigt sich in der ungeheuerlichen Tat (dem Angriff auf den Wehrlosen) und er zeigt sich (z.T. im Nachhinein) als Spur auf den Körpern. Als deformierter Körper, der nur auf sich selbst verweisend eine Ahnung der Kräfte preisgibt, die an ihm wirkten. Dieses erklärt vielleicht, warum in der UFC die Blutspuren im Ring nicht weg gewischt werden, warum mit klaffender Wunde weiter gekämpft werden darf und warum die Hooligans ihre nicht verarzteten, nicht kaschierten Wunden präsentieren.


Dienstag, 14. Oktober 2014

Rammstein: "Kokain"

Und noch etwas zum "Schnee auf dem wir alle talwärts fahren" (Falco: "Der Kommissar", 1982), der auch in der Populärkultur umfangreich thematisiert wurde. So hat sich neben vielen anderen Musikern (über die noch zu sprechen sein wird) auch Rammstein mit dem Thema Kokain befasst und unter dem gleichnamigen Titel einen durchaus interessanten Liedtext dazu verfasst. Auffälligstes Merkmal des Textes ist auch die hier stattfindene Dissoziation des Ichs.
Realisiert wird dies durch den Rückgriff auf die Metapher des Spiegels, konkret ist die Rede vom "Vater aller Spiegel", also eine dem lyrischen Ich deutlich überlegenden Macht, die es gefangen nimmt. Im klassischer Verführerpose flüstert es dem lyrischen Ich Schmeicheleien ins Ohr ("du bist das schönste Kind, von allen"); das Kokain wird hier also zum verklärenden Spiegel, der dem realistisch-pessimistischen Ich ein besseres gegenüber stellt und es so bekämpft ("die weiße Fee spannt ihren Bogen / Schießt meiner Sorge ins Gesicht").
Im weiteren Verlauf intensiviert sich das Verhältnis zwischen lyrischem Ich und "weißer Fee" jedoch, die distanzierte Spiegelung entwächst zur gewaltsamen Paarung. Das lyrische Ich wehrt sich im Folgenden zwar noch gegen die Wehen, muss dann aber, in erneut aufgespaltener Perspektive, die Geburt mit verfolgen. Anschließend kommt es durch den Verzehr der Nachgeburt zur größtmöglichen Vereinigung mit Resultat der Verbindung des Ichs mit dem Kokain. Hierdurch (wie auch die Kürzung des Refrains um die ersten beiden Verse) wird im Folgenden der Bezug des Refrains unklar: Ist es noch der Kokainrausch, der zum lyrischen Ich redet? Oder redet das lyrische Ich jetzt vielmehr zu dem eigenen Kind? Im letzteren Sinne könnte der Ausdruck "wie mein Eigenblut" auf die suchtbedingte Selbstentfremdung verweisen, die durch das Spiegelmotiv angedeutet wird und der Ausdruck "Kind" entsprechend als Metapher für die Sucht verstanden werden, die das Resultat der Drogeneskapaden des lyrischen Ichs ist.
Im Ganzen zeigen sich hier also Paralleln zum Gedicht von G. Benn: Der Kokainrausch zeigt sich in Auflösungstendenzen, das Ich entrückt sich selbst, indem es bei Benn formlos und bei Rammstein im Spiegelbild gebrochen wird. Der Text von Rammstein wirkt jedoch deutlich negativer, die Droge wird gewaltätig, quält das lyrische Ich durch die Nacht und vergewaltigt es. Wichtigstes Motiv hierfür ist neben dem Spiegel- das Verführermotiv, der "Vater aller Spiegel" flößt dem lyrischen Ich eine ins Positive verklärte, illusionistische Selbstsicht ein (wichtig hier die zustimmende, gewillte Haltung des Verführten). Als Preis der Vereinigung kommt es zur distanziert wahrgenommenen Geburt eines gemeinsamen Kindes (in diesem Sinne der Sucht), wobei der verzweifelte Akt der Verzehrung der Nachgeburt nicht darüber hinweg helfen kann, dass dieses Kind am Ende nur in der Illusion als (bzw. für das) eigenes Blut gehalten werden kann und nur in dieser das Böse gut ist, welches letztlich wohl seine Essenz ist.

Rammstein: "Kokain"

Sind die Freunde mir gewogen / die weiße Fee spannt ihren Bogen
Schießt meiner Sorge ins Gesicht / und aus den beiden Hälften bricht
Der Vater aller Spiegel

Refrain: er winkt mir und ich beug mich vor / er flüstert leise in mein Ohr
du bist das schönste Kind, von allen / ich halt dich wie mein eigen Blut
du bist das schönste Kind, von allen / In mir ist auch das böse gut

Die Neugier meinen Traum verlängert /die weiße Fee sie singt und lacht
hat gewaltsam mich geschwängert / Und trächtig quält mich durch die nacht
der Vater aller Spiegel

Refrain

und wie ich mich der wehen wehre / auf dem Kindbett noch gehurt
Seh dabei zu wie ich gebäre / und fress' die eigne Nachgeburt

du bist das schönste Kind, von allen / ich halt dich wie mein eigen Blut
du bist das schönste Kind, von allen / In mir ist auch das böse gut

Wdh.

Quelle: http://www.magistrix.de/lyrics/Rammstein/Rammstein-Kokain-111560.html

Sonntag, 12. Oktober 2014

Gottfried Benn: "Cocain" (I)



Wie so viele Literaten hat auch Gottfried Benn Erfahrungen mit berauschenden Substanzen gesammelt und diese künstlerisch verarbeitet, insbesondere den Kokainkonsum wurde lyrisch erkundet. Eines dieser Gedichte ist mit "Cocain" betitelt (Gedicht weiter unten) und zeigt gleich zu Beginn die vordergründigste Funktion des Rausches für Benn: der Zerfall des Ichs. Das geschlossene Ich, d.h. eine Art nach außengetragene Persönlichkeit oder historisch materialistisch-fassbare Person, wird in der ersten Strophe gegen das Fremde, Unerwähnte ausgespielt, die Gebilde im Unterbau präsentieren sich hier als typisch sexualisierte Metaphern psychoanalytischer Denkweisen. Auch die zweite Strophe verfügt über ein ähnliches Vokulabur, so wird das Schwert gegen die Scheide ausgespielt, welches in einer Alliteration mündend sich im Tatendrang vollzieht.
Es kommt jedoch zur Unterbrechung, graphemisch durch einen doppelten Gedankenstrich ausgedrückt. Etwas gibt sich passiv dem idyllischen Orten (Heide) hin, deren räumliche Ausprägung immer wager wird. Die Beschreibung wird immer brüchiger, die folgende Strophe versucht eine Annäherung durch Auflistung und zeichnet das Bild von etwas, das kaum mehr wahrnehmbar scheint (glatt, klein, eben). In diesem Schwebezustand und Nullpunkt vollzieht sich der Umschwung ins Mysthische, das "Ur", das "Nicht-seine" taucht auf. Das Erscheinen ist jedoch nur momenthaft, ein Hauch, ein Hirnschauer, letztlich nur "Vorübergehn". Die letzte Strophe versucht es dann elliptisch doch noch zu fassen, wenngleich dies letztlich nur als nichtiger Griff nach der "Schwäre", dem Verwehten, Zerborstenen erscheint. Inmitten dieser Epiphanie kommt es zum Geburtsspruch, das "Entformte" soll (erneut?) geboren werden. Mehrdeutig bleibt dabei die vorletzte Stophe: Soll das Ich es gezielt verströmen oder es in seiner Auflösung (seinem eigenen Verströmen) Raum für es schaffen? Oder ist mit "Du" direkt das Andere, das Gegenüber bezeichnet, welches als notwendige Abgrenzung zur Ausformung der Person vorhanden sein muss und nun dialektisch aufgelöst werden soll?
Abseits dieser Frage zeigen sich in dem Gedicht auf der einen Seite interessante Blicke auf den Kokainrausch: die Auflösung der Alltagswahrnehmung, die Erfahrung mysthischer Zustände (beides wirkt konträr zu den heutigen Bild von Kokain als Egobooster und Lifestyledroge). Auf der anderen Seite die Schwierigkeit der Darstellung: ein schon graphemisch zerklüftetes Gedicht (auffällig die "wilde" Groß-Klein-Schreibung), das immer wieder in Aufzählungen und hermetischen Bildern aufgeht. Im Ganzen wirkt es wie eine Verschmelzung des Rausches mit der Ideenwelt Benns, oder ,vielleicht allgemeiner, seiner Zeit. In expressionistischer Manier offenbart sich ein subjektiver Blick auf den Verfall des Ichs, der wohl letztlich nur vom Drogenrausch verstärkt wird. Gewendet ist der Blick ganz auf das Ferne (verströmte, verwehte, zersprengte) hinfort vom stählernen, kriegerischen Tatmenschen Alltag. Dieses Ich hat keine Form mehr, steht in der Leere, und selbst das Andere, Du verströmt (in diesem Sinne vielleicht auch hier wieder als Spiegelmotiv lesbar, dessen Ich-Verdoppelung gewissermaßen in der Realität verfangen ist). Was bleibt ist das Ur Gefühl und die gezeichnete Ästhetik - frei nach Benn.

Cocain
Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,
 Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh,
 Schon ist der fremde Klang an unerwähnten
 Gebilden meines Ichs am Unterbau.

Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide
 Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun
 Und stählern schlägt --: gesunken in die Heide,
 Wo Hügel kaum enthüllter Formen ruhn!

Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben-
 Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns
 Das Ur, geballt, Nicht-seine beben
 Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.

Zersprengtes Ich - o aufgetrunkene Schwäre -
 Verwehte Fieber - süß zerborstene Wehr -:
 Verströme, o verströme Du - gebäre
 Blutbäuchig das Entformte her.

 Gottfried Benn (1917) Quelle: http://www.kassiber.de/bennkokain.htm

Dienstag, 7. Oktober 2014

Ultimate Fighting Championship (I)

Seit knapp 20 Jahren gibt es die Ultimate Fighting Championship, wo hinter sich eine  US-amerikanische Mixed-Martial-Arts-Organisation verbirgt. Charakteristisch für die Kämpfe der UFC sind der enge Käfig sowie die weit gefassten Regeln. Ohne diese Sportart an sich beurteilen zu wollen, ist es doch auffällig, dass es in den Wettkämpfen immer wieder zu Extremsituationen kommt. So zeichnen sich gewisse Sportler - euphemistisch ausgedrückt - durch ihre Unnachgiebigkeit aus, was sie (für mich) unter dem Aspekt des Blutrausches interessant werden lässt. Beispielhaft dafür ein Zusammenstellung von Bildern aus einem Kampf zwischen Dan Henderson und Michael Bisping vom 11.07.2009:
Abb. 1: Screenshots aus: "Top 20 Knockouts in UFC History" (Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=LWE79K2Ii-s), zusammengestellt von Henrik Wehmeier
Wie auf den Bildern zusehen ist, wird der eine Kämpfer durch einen Wirkungstreffer außer Gefecht gesetzt. Sein Kontrahent zieht sich daraufhin jedoch nicht zurück, sondern stürzt sich regelrecht auf ihn und schlägt weiter auf ihn ein, woraufhin ihn der Schiedsrichter wegzerrt. Dieses Geschehen ist nun durchaus so gewollt und wird nicht gestraft - vielmehr wird dieser Ausschnitt des Kampfes von der UFC selbst als einer der besten Knockouts der eigenen Geschichte angepriesen. Dieses ist für mich wie gesagt jedoch nur von peripheren Interessen, dieser Kampf bzw. der Sport wirft vielmehr eine grundsätzliche Frage auf: Wo sind eigentlich die Grenzen des Sportes? Wie kann zwischen Wettkampf und Blutrausch unterschieden werden?
Auf der einen Seite hat die UFC natürlich ein wirtschaftliches Interesse, die Brutalität der Wettkämpfe ist Alleinstellungsmerkmal und verspricht dem Zuschauer ein Spektakel. So sieht man oben im Ring noch die Blutspuren der vorherigen Kämpfe auf den Ringboden, die sich mit den neuerlichen vermischen. Aber dennoch: Handelt es sich hier um professionalisiertes Handeln, oder um nicht schon um ein Umschlagen in die Grenzsituation, in den Blutrausch?
Hier stößt man nun unumgänglich auf die Frage, was eigentlich ein Blutrausch sei. Zumeist wird er als psychischer Ausnahmezustand bezeichnet, der die Ausführung von Gewalttaten bedingt. Es besteht also scheinbar ein enge Verbindung zum Aussetzen der Empathie sowie zum Verlust des Moralbewusstseins (bzw. eine Ausblendung der strafrechtlichen Konsequenzen). Dieser Empathieverlust wird im obigen Beispiel sehr deutlich: Statt aus Angst um die Gesundheit des Kontrahenten zurückzuschrecken, drängt der Kämpfer weiter auf ihn ein. Er schlägt auf den ungeschützen Kopf ein; nach dem Kampf stielt er starren Blicks nach vorne und hebt mechanisch die Arme, die Mimik konstant ausdrucksleer.
Möglich Ursache für dieses Handeln kann der Adrenalinschub im Körper sein, der Niederfall auf eintrainierte Handlungsmuster, die anpeitschende Menge um ihn herum. Doch wirken diese Aspekte nur wie Annäherungen: Zeigt sich nicht hier eine bewusste Provokation des Rausches, der Drang zum unmittelbaren Handeln, sprich final eine gezielte Ausschaltung der distanziernden Intellektualität? Fokussiert auf die Konfrontation Körper gegen Körper geht es nur um die Zerstörung des Anderen, des Gegenüber - zumindest im Moment der Schwerelosigkeit nach dem Wirkungstreffer auf den Anderen, wenn das Taktieren fallen gelassen werden kann und sich das eigene Bewusstsein in der Spiegelung der Bewusstlosigkeit des Anderen ausschalten kann. 



Montag, 6. Oktober 2014

'Smack My Bitch Up'


Ein Klassiker unter den Musikvideos und zugleich ein Versuch, den Rausch zufassen: Jonas Åkerlund setzt in seinem Musikvideo zu Smack My Bitch Up von The Prodidy aus dem Jahre 1997 auf die konsequente Verwendung der subjektiven Kamera. Hinzu kommen Effekte auf der Ebene der Kamerabewegung, insbesondere das rasante Neigen der Kamera. Der abschließende Blick in den Spiegel des autodiegetischen Erzählers kann neben dem Effekt der Überraschung als Verweis auf die innere Entfremdung des berauschten Bewußtseins gesehen werden, dass durch die Konfrontation mit dem eigenen Körper zugleich mit der äußeren Welt, also auch der eigenen Äußerlichkeit konfrontiert wird. War es vorher durch den Rausch ganz in sich selbst versunken und der stark verzerrten Wahrnehmung hingeben, kommt es hier zur schockartig aufflackernden Ernüchterung.