Freitag, 2. Januar 2015

Gottfried Benn: "O Nacht -:"

Neben "Cocain" beschäftigt Gottfried Benn sich auch in dem Gedicht "O Nacht -:" (Gedicht weiter unten) mit dem Kokainkonsum. Dieses wirkt auf den ersten Blick deutlich zugänglicher: So werden in der ersten Strophe keine komplexen Metaphern eröffnet, keine schwer zugänglichen Gedanken präsentiert. Vielmehr liegt hier ein sehr alltäglicher Wunsch des lyrischen Ichs vor, dass das eigene Alter, d.h. die nahende Vergängnis, spürt und entsprechend hedonistisch die (scheinbar letzten) lebenswerte Momente genießen will.
Hierzu wird die Nacht als Ort der Ausschweifung angerufen und beschworen, das Kokain dient als eine Art Zaubermittel, um diesen Vorgang zu initiieren oder auch zu beschleunigen. Die Wirkung des Kokains zeichnet sich direkt ab, so stellen die ersten beiden Verse noch ruhige Sätze da, wohingegen die folgenden beiden durch eine Interpunktion bzw. durch eine Wiederholung klingen, als wären sie im Rausch ausgesprochen. Sie wirken nicht wohl ausformuliert, sondern übersteigert gestammelt, gerade in dem doppelten "ich muß" zeigt sich die aufputschende Wirkung der Droge. So hebt sich die erste Strophe auch in ihrer Länge von den restlichen ab, da die anderen über je nur vier Verse verfügen. Dieses könnte Folge des Überschwangs der ersten Kokainwirkung sein; es könnte aber auch als Verweis darauf gedeutet werden, dass das "Vergängnis" längst im Gange ist, der Wunsch nach dem letzten Ausschweifen eine unangemessene Forderung an ein längst ruhiger gewordenes Leben ist, ausgedrückt durch die "Überlänge".
In der zweiten Strophe präzisiert das lyrische Ich seine Wünsche, wobei es diese in sehr plastische Bilder transformiert.So werden physische Vergleiche gezogen, die Rede ist von "Zusammenballung", "Wallung" und "Raumverdrang". Diese stehen dem abstrakten inneren Zustand des "Ichgefühls" konträr gegenüber. Auch hier sind die Auflistungen und Wiederholungen auffällig, der Text wird zu einem beschwörenden Stammeln. Es werden konkrete Forderungen an die Nacht und, damit eng verbunden, den rauschhaften Zustand gestellt. Auch die nächste Strophe weist diese zerrissene Struktur auf, die inhaltlich durch die Komposition "Worte-Wolkenbrüche[n]" beschrieben wird. Inhaltlich kommt es zu einer Adaption medizinischer Begriffe, die auf die kleinsten Teile des menschlichen Körpers abzielen ("Körperchen", "Zellen"). Es entsteht der Eindruck eines sich auflösenden Bewusstseins, welches nicht mehr statisch erfasst werden kann, sondern sich nur bewegend ("ein Hin und Her") und entziehend zeigt. Gerade dieses unfassbar werden zeigt sich in der Unmöglichkeit der Verortung: "zu tief im Hirn, zu schmal im Traum". Es kommt hier zu kühnen Metaphern, lässt sich tief in Hirn bspw. noch psychoanalytisch verstehen, kann nur erahnt werden, inwiefern das Erlebnis oder auch der Eindruck im Traum zu schmal ist. Es könnte u.a. als Aufwertung der Nachterfahrung gedeutet werden, die nicht als "unwirklicher" Traum, sondern als reales Erlebnis aufgefasst wird.
Es folgt die Benennung der eigentlichen "Opposition", das "Ding-Gewerde". Die eingangs beschriebene Vergänglichkeit wird nun deutlich weiter gefasst, so schwenkt in meinen Augen das Gedicht hier auf existentielle Fragen. Das lyrische Ich stellt das Ichgefühl dem Menschwerden und noch allgemeiner dem überhaupt materiell werden gegenüber. Es eröffnet die klassische Subjekt-Objekt-/Geist-Materie-Spaltung, wobei der Geist hier ein dekonstruierter ist, es ist vom "Schädel-Flederwisch" die Rede. Dieser sich auflösende Geist ist auf der Suche nach einem neuen Aggregatszustand, einer Form, wobei etwas unklar bleibt, inwiefern hier die äußere Welt doch wieder für das Ichgefühl benötigt wird.
So wird die Nacht als Körper- bzw. Formgeber angesprochen ("o leih mir Stirn und Haar"), was in einer mythischen Geburtsszene mündet. In pantheistischer Manier wird die Nacht beschworen, der Kelch wird als Symbol der Fruchtbarkeit angerufen, die Krone als weltliches Symbol mit einbezogen ("sei, die mich aus der Nervenmythe / zu Kelch und Krone heimgebar"). Diese sagenumwobende Atmosphäre kulminiert dann in der letzten Strophe: "Es sternt mich an - es ist kein Spott -: / Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, / sich groß um einen Donner sammeln."
Gleich zu Beginn des zweiten Verses wird die kosmische Dimension verdeutlicht, das lyrische Ich wird "angesternt". Hier taucht zum dritten Mal eine typographische Besonderheit auf, die auf den ersten Blick irritiert: "-:". In der dritten Strophe signalisiert diese Besonderheit das Versagen der Sprache. In der letzten Strophe hingegen zeigt der Gedankenstrich einen Einschub an, welcher erneut die Ernsthaftigkeit des Erlebnisses betont. Der Doppelpunkt wird aber kurz später erneut bedeutungstragend, so kommt es wieder zu einer Art Stammeln des lyrischen Ichs: "ich: mich, einsamen Gott". Nur die Interpunktion hält "ich" und "mich" zusammen. Diese Art der Verbindung kann als eine Art Selbstvergewisserung gedeutet werden, das Ich stellt nur noch den Bezug zu sich selbst her. Hiermit schließt sich der Kreis zum anfänglichen Ichgefühl: In der rauschhaften Nacht kommt es im Bewusstsein zum zirkulären Schluss. Auflösung und Formenwandel werden zu Äußerlichkeiten, deren Abstreifung und Durchwanderung sich um den nicht wandelbaren Kern, das Ich, anhäufen. Paradoxer Weise ist dieses Ich aber immer schon ein sich entziehendes, dass ohne diese Prozesse nicht wahrnehmbar wäre. Hier stellt sich dann wieder die Frage nach der Funktion des Rausches, d.h. ob er somit ein notwendiger Vorgang zur "Ertastung" des eigenen Ichs ist oder nicht letztlich doch nur Weltflucht, also hier konkret Flucht vor dem altersbedingten Verfall des Körpers.


O Nacht -:

O Nacht! Ich nahm schon Kokain, / und Blutverteilung ist im Gange,
das Haar wird grau, die Jahre fliehn / ich muß, ich muß im Überschwange
noch einmal vorm Vergängnis blühn.

O Nacht! Ich will ja nicht so viel, / ein kleines Stück Zusammenballung,
ein Abendnebel, eine Wallung / von Raumverdrang, von Ichgefühl.

Tastkörperchen, Rotzellensaum, / ein Hin und Her und mit Gerüchen,
zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen -: / zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.

Die Steine flügeln an die Erde, / nach kleinen Schatten schnappt der Fisch,
nur tückisch durch das Ding-Gewerde / taumelt der Schädel-Flederwisch.

O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn! / Ein kleines Stück nur, eine Spange
von Ichgefühl - im Überschwange / noch einmal vorm Vergängnis blühn!

O Nacht, o leih mir Stirn und Haar, / verfließ dich um das Tag-verblühte;
sei, die mich aus der Nervenmythe / zu Kelch und Krone heimgebar.

O still! Ich spüre kleines Rammeln: / Es sternt mich an - es ist kein Spott -:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, / sich groß um einen Donner sammeln.

(Quelle: Benn Gottfried: "O Nacht -:". In: ders.: Gedichte. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8480. Philipp Reclam jun.: Stuttgart 2006. S. 24/25.)

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