Sonntag, 25. Januar 2015

"Entourage" (HBO, USA 2004-2011) (II) / "True Detective" (HBO, USA 2014- ) (II)

Im Nachgang zum letzten Eintrag zur Serie Entourage (HBO, USA 2004-2011) stieß ich auf interessante Überlegungen zum Motiv des Rituales, die in gewisser Weise eine Verbindung zur ebenfalls behandelten Serie True Detective (HBO, USA 2014- ) herstellen. So führt Ulrike Brunotte in ihren Überlegungen zu den Veränderungen der Ritualtheorie Anfang des 20. Jahrunderts aus:

Die äußere Natur wird als Bezugsrahmen von Ritualen mehr oder weniger verlassen, und der soziale Raum als ein performativ gebildeter mitsamt der in ihm agierenden und zivilisierten kollektiven inneren Natur betreten. Rituale werden im emphatischen Sinne als Medien von Massenerregungen, festlicher Selbstwahrnehmung und Vergemeinschaftung verhandelt. In ihnen löst sich nach Durkheim die Trennung der arbeitsteilig atomisierten Individuen in der Weise auf, wie ein zwischen Subjekt und Objekt changierender medialer Raum geschaffen wird, ein kollektiver Erregungs- und Affektraum, der zugleich erhöhte Selbstwahrnehmung ermögliche und die ‚Geburtsstätte‘ der ‚religiösen Idee‘ – des ‚Göttlichen‘ sei.
(Brunotte 2011: 87)


Diese wissenschaftstheoretischen Überlegungen, die auf Vorgänge wie die Industrialisierung und die Bürokratisierung der Gesellschaft abzielen, können in meinen Augen auch produktiv in Bezug auf Entourage und True Detective angewandt werden - was auf den ersten Blick vielleicht etwas weit her geholt wirkt, aber nicht zuletzt eröffent ein Blog eben für solche abschweifenderen Gedanken Raum. Ganz oberflächlich verweisen Begriffe wie festliche Selbstwahrnehmung und Vergemeinschaftung auf die bereits beschriebene topographische Spannung der analysierten Entourage Folge zwischen naturhaften Nationalpark und kulturisierter Lebenswelt. Filmisch zeigen sich diese Aspekte etwa in dem Motiv der wandernden Gefährten oder auch in Vinces innerer Suche nach der richtigen Entscheidung, die er durch die drogenbedingt gesteigerte Selbstwahrnehmung besser zu finden hofft:
Abbildung 1: Filmische Motive. Quelle: "Entourage" (HBO, USA 2004-2011). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Wenngleich sich der Aspekt der Masse inhaltlich in diesem Beispiel eher weniger ausmachen lässt, zeigen sich in meinen Augen Referenzen auf ein kollektives Unterbewusstsein: Es geht um Fragen des "guten Lebens", d.h. um existentielle Entscheidungen, in die das Individuum durch die Wandel innerhalb der modernen Gesellschaft getrieben wird. Und hier kommt dann doch wieder der Aspekt der Masse hinzu, insofern als bsph. Vince und Ari als Identifikationsflächen dienen können, die durch ihren Rausch überaffektiert universelle Probleme verkörpern: etwa das Dilemma zwischen wirtschaftlichen Erfolg und persönlichem Idealismus (wenn Vince zwischen 'stumpfer' Blockbuster Hauptrolle und 'schlecht' bezahlter anspruchsvoller Nebenrolle schwankt) oder Hedonismus und Verantwortung (wenn Ari sich (wenngleich etwas ungewollt) seinen Sinnesrausch hingeben will und gleichzeitig diesen Kontrollverlust vor der Familie, als deren 'Oberhaupt' er sich begreift, verbergen muss).
Durch den Rausch werden die Figuren zu Verkörperungen dieser oft unterdrückten Spannungen und können sie zugleich in ihrer Entgrenzung überzeichnet ausleben. Die Folge tritt hierdurch, wie auch schon topographisch, aus den eigentlich "Sitcom-Trott", wodurch sie wie das Ritual eine gesonderte Stellung jenseits des Alltags einnimmt und zum gemeinsamen Affektraum werden kann. Diese Gedanken klingen durchaus etwas hochtrabend, könnten aber ein Ansatz sein, um sich den Rauschszenen von Serien zu näheren. In diesen kommt es oftmals zu Grenzerfahrungen, insbesondere Regulierungen des Verhaltens werden gebrochen; der Zuschauer kann dann in diesen Szenen Tabubrüche identifikatorisch miterleben, ohne deren Konsquenzen zu erleiden - also klassische eskapistische Ansätze. Berechtigter Kritikpunkt wäre aber unter anderem die Frage, warum diese Momente auf Rauschszenen begrenzt sein müssen; ebenso kann die oft distanzierte Darstellung von Rauschzuständen wie in Entourage als Einwand erhoben werden.
Diese Fragestellung wird sicherlich in kommenden Beiträgen zu weiteren Rauschszenen in Serien noch relevant werden, an dieser Stelle würde ich nun gerne noch auf True Detective eingehen, um einen Aspekt des Rituals zu betrachten: "die ‚Geburtsstätte‘ der ‚religiösen Idee‘". Mit True Detective habe ich mich bereits in einem früheren Beitrag beschäftigt, dort war viel von der stoischen, abgestumpften Persönlichkeit Rusts, der Betäubung durch und dem Versinken im Alkohol und letztlich dem Weg in den Abgrund des Charakters die Rede.
So dominant diese Charaktereigenschaften auch auftreten, gibt es dennoch figürliche Aspekte jenseits von ihnen, auf die ich nicht einging. Gemeint sind zwei besondere Qualitäten Rusts: Auf der einen Seite fällt er in den Verhören von Verdächtigen immer wieder durch sein besonderes Einfühlungsvermögen auf, auf der anderen Seite erleidet er in der Serie mehrfach Visionen. Diese Eigenschaften hängen in meinen Augen eng zusammen, sie sind Ausdruck der haltlosen Persönlichkeit Rusts, die durch ihre 'Abgründigkeit' sich ganz den Fällen hingeben kann und so etwa auch die 'dämonischen' Gedankengänge moralisch fragwürdig Agierender nachfühlend durchschreiten kann. Diese Einfühlung findet ihren Höhepunkt in den Momenten der Visionen, deren nicht zuletzt ontologischer Status unklar bleibt:
Abbildung 2: Visionen Rusts. Quelle: "True Detective" (HBO, USA 2014- ). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Abb. 2 zeigt zwei Szenen, in denen Rust Visionen erfährt. In der ersten Szene konsumiert er starke Medikamente, befindet sich also in einem Drogenrausch; in der zweiten Szene ist er mit seinem Partner unterwegs und erblickt die Vision untervermittelt als er aus dem Auto steigt. Rust selbst erklärt die Visionen als Nervenschäden in Folge des Drogenskonsums während seiner Zeit als Undercoverpolizist. Gerade die zweite Szene zeigt die Schwierigkeit der Verortung dieser Visionen, durch die Over-the-Shoulder Perspektive entsteht der Eindruck, als würde der Zuschauer in die subjektive Perspektive Rusts eintreten. Diese subjektive Perspektive wird durch das irreale Schauspiel am Himmel unterstützt, welches so als Halluzination erklärt werden kann und dadurch nicht in Konflikt bspw. mit den Naturgesetzen tritt. Es zeigt sich die grundlegende Spannung, dass der Zuschauer entweder an der geistigen Verfasstheit Rusts oder der realistischen Ausgestaltung der diegetischen Welt zweifeln muss.
Hier durch kommt es in gewisser Weise zu einem zwischen Subjekt und Objekt changierenden, medialen Raum, wie er im Eingangszitat beschrieben wird. Und weiter gedacht wird auch die Individuation der Welt aufgelöst, da Rust in diesem Moment eins mit der Welt wird, so gibt ihm etwa die Natur Hinweise in seinem Fall: das im letzten Screenshot von den Vögeln verkörperte Symbol ist eben jenes, welches die Ermittler zu Beginn der Serie auf dem Rücken des Mordopfers finden.
Auch diese Szenen stellen damit wie die Sequenzen aus Entourage einen gesonderten Bereich innerhalb der Serie da, Rust verlässt momenthaft die alltägliche individuelle Weltwahrnehmung, und der Point of View folgt ihn im Form des Perspektivwechsels. Das erscheinende Zeichen markiert den Raum, den Rust Betritt: Er taucht ein in die Bewusstseinswelt des Täters, welcher durch den Ritualmord zu Beginn der Serie dieses Zeichen korporalisierte. Dieses Zeichen wiederum entstammt in meinen Augen der okkulten, radikalisierten Deutung von spirituellen Tendenzen, die durchaus in einer Art kollektiven Unterbewusstsein florieren. So finden sich in True Detecitve immer wieder Landschaftsaufnahmen sowie Aussagen über die religiöse Prägung Louisianas; die Sumpflandschaft sowie das feuchte Klima verweisen dabei auf Aspekte wie Fruchtbarkeit und Wandel, die religiöse Prägung auf affektiv aufgeladene Religionspraktiken, in denen bspw. der Zustand der religiösen Ekstase eine besondere Stellung einnimmt. Die Visionen können so als die subjektive Variationsform des Erlebens dieser ekstatischen Tendenzen durch Rust gedeutet werden, er gibt sich der Sphäre zwischen dem kollektiven Pol sowie dem individuellen Pol des Täters hin und wird so zum Medium, dass zwischen dieser Welt und der alltäglichen vermitteln kann. Möglich wird ihm dies durch seine 'Abgründigkeit', die insbesondere das bedingungslose Nachfühlen ermöglicht.
Zugleich können diese Visionen, da sie im Massenmedium des Fernsehes auftreten und natürlich auch an den Zuschauer gerichtet sind, auch als Konkretisierung der beschriebene Tendenzen wie Fruchtbarkeit und Religiösität des kollektiven Unterbewusstseins dieser Region beschrieben werden, wird das filmische Material hier als auch wie bei Entourage zur entgrenzten Identifikationsfläche für den Zuschauer. Um wieder auf das Zitat zurückzugreifen: die Szenen betreten den sozialen Raum, der "als ein performativ gebildeter mitsamt der in ihm agierenden und zivilisierten kollektiven inneren Natur" erscheint. Gebildet wird dieser Raum durch die Figuren, welche durch den Rausch die Individualisierung hin zu kollektiven (oftmals unterbewussten) 'Räumen' verlassen und so zu Medien werden können, wobei das audiovisuelle Medium wiederum diese besondere Wahrnehmung durch die beschriebenen verschiedenen Inszenierungsstrategien vermittelt.


Literaturhinweise:
Brunotte, Ulrike: „Das Ritual als Medium ‚göttlicher Gemeinschaft‘. Die Entdeckung des Sozialen bei Robertson Smith und Jane Ellen Harrison.“ In: Fischer-Lichte, Erika; Horn, Christian; Umathum, Sandra; Warstat, Matthias: Wahrnehmung und Medialität. Theatralität Band 3, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte. Francke Verlag: Tübingen/Basel 2001, S.85-102.

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