Montag, 26. Januar 2015

"Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel"

Crystal Meth scheint momentan die Droge der Stunde zu sein, so überrascht es wenig, dass sie zum Thema (und vielleicht zum eigentlich Hauptprotagonisten?) des Kieler Tatorts vom letzten Sonntag wurde ("Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel", R.: Christian Schwochow, D 2014). Gleich der Beginn des Filmes fällt in seiner besonderen Ästhetik auf, so wechseln Bild- und Tonebene (zumindest die diegtischen Töne) in der einleitenden Sequenz zwischen Aufnahmen einer leeren Waldstraße und den Einblendungen der Namen der Beteiligten. Auffällig ist, dass die Wechsel sehr schnell geschehen, so sind die Namenseinblendungen mitunter nicht einmal eine Sekunde im Bild, die Bilder beginnen regelrecht zu flackern.
Abbildung 1: Eingangssequenz. Quelle: "Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel", R.: Christian Schwochow, D 2014. Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Der Tatort eröffnet also direkt mit leichten Irritationen des Zuschauers. Er wird schlaglichartigen Eindrücken ausgesetzt, die auch inhaltlich halbwegs verwundern: So sieht man einen bewusstlosen Körper mit tiefschwarzen Augen, der stark den Eindruck einer Leiche macht, anschließend blinkt jedoch eine Axt (die mutmaßliche Tatwaffe) sowie das Zuschlagen einer nicht erkenntlichen Figur auf; etwas scheint somit in der Chronologie verruscht zu sein. Hier macht sich also eine eigenwillige Filmsprache bemerkbar, die zwischen melancholisch leeren Aufnahmen und aufzuckenden Erscheinungen alterniert. Auffällig ist darüberhinaus die Farbgestaltung, die Bilder wirken künstlich entsättigt, Grautöne dominieren. Der Zuschauer wird dann direkt informiert, dass das Opfer Crystal Meth im Blut hatte, es folgen Aufnahmen von Rita Holbeck (gespielt von Elisa Schlott), der Ex-Freundin des Opfers, die beim Anblick des Fahnungsbildes von Flashbacks der gemeinsamen Zeit heimgesucht wird:
Abbildung 2: Flashbacks der Ex-Freundin. Quelle: "Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel", R.: Christian Schwochow, D 2014. Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Die Flashbacks zeigen Rita im aufgelösten Zustand, gezeichnet von Entzugserscheinungen schreit sie ihren Exfreund Mike Nickel (Joel Basman) an und verlangt nach Drogennachschub. Dieser bezeichnet sie als Junkie; auffällig ist dabei die Maske der Figur, die die medial oft verbreiteten Hautabszesse infolge von Crystal Meth Konsum zeigt, er selbst scheint also ebenso abhängig zu sein. Bis hierin bewegt sich der Tatort also in traditionellem Fahrwasser, der Zuschauer hat den etwas irritierenden Vorspann hinter sich gelassen und wird nun mit dem 'typischen' Drogensüchtigen konfrontiert, in Grautönen offenbaren sich deformierte Körper und hysterische Suchtaffekte. Crystal Meth gebiert sich medial als Pest, die, wie der Regisseur Christian Schwochow im Interview ausführt, wie eine ebensolche über das Land gekommen sei, was er nun darstellen wolle. (vgl. Anonym: "Gespräch mit Christian Schwochow", URL 26.01.2015) Diese Darstellung ist pädagogisch sicher tadellos, vermag aber kaum die Faszination dieser Substanz ausdrücken, insbesondere die Frage, wie es in den letzten Jahren zu der epidemieartigen Verbreitung einer Drogen gekommen ist, die bereits im zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde (bspw. Wikipedia liefert hier einen kurzen hist. Überblick: URL).
Um sich dieser Frage zu näheren, verlässt der Tatort im Folgenden diese Art der Darstellung und begibt sich in heikleres Gebiet, da auch positive Seiten des Rausches zum Ausdruck gebracht werden. Christian Buß, u.a. Tatort-Rezensent von Spiegel Online, spricht etwa von "entfesselten Rauschbildern" und führt aus: "Die Schönheit einer amtlichen Crystal-Meth-Sause - dieser "Tatort" zelebriert sie im wärmsten Licht und im anregendsten Rhythmus." (Buß, Christian: ""Tatort" über Crystal Meth: Vögeln bis die Sonne aufgeht. Und wieder unter", URL 26.01.2015). Oliver Jungen spricht auf faz.de von einem "ästhetischen Trip" und einer "aufregende[n] Feier des Lebens" (Jungen, Oliver: "Der neue „Tatort“ aus Kiel. Leben und Sterben im Rausch", URL 26.01.2015). Doch wie werden diese Rauschbilder inszeniert?
Zunächst einmal ist die Rahmung auffällig, wie auch Schwochow ausführt: "So kam die Visualität zustande: auf der einen Seite das Bunte, Überdrehte, und als Kontrast das Kalte, Düstere, das mit einer brutalen Klarheit die Schattenseiten porträtiert." (vgl. Anonym: "Gespräch mit Christian Schwochow", URL 26.01.2015).  Etwas weiter gefasst kann die Schattenseite als alles außerhalb der Rauschszenen aufgefasst werden, als die Tristesse und Graue des Alltags, die sich gerade in den Momenten des Entzugs in klirrender Schärfe zeigt. Dieser Kontrast wird besonders deutlich in der ersten und längsten Rauschszene, die von Rita in Form eines zeitlich stark gerafften Rückblicks erzählt wird. Während dieser Erzählung befindet sie sich im Verhörraum des Polizeiraums:
Abbildung 3: Erste Rauschszene. Quelle: "Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel", R.: Christian Schwochow, D 2014. Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Der Verhörraum destilliert gewissermaßen die Eigenschaften der 'nüchternen' Welt: er ist beengt, leblos steril gehalten, die Farben des Raumes sind kalt. Inmitten dieser Tristesse brechen dann die Rauschbilder hervor, die direkt durch ihre warmen, leuchtenden Farben auffallen. Die folgenden Rauschbilder zeigen dann stereotype Inszenierungsstrategien des Rausches. So sind die Farbfilter auffällig, die das Bild mal in golden leuchtendes, mal in warmes lilanes Licht tauchen. Allgemein zeigen sich die Farben nur in extremen Formen. In den Tagszenen leuchtet die Sonne grell durch das Fenster, es kommt zu Lichtreflexen auf der Linse (passender Weise tragen die Figuren auch in Innenräumen Sonnenbrillen). In den Clubszenen tritt starkes Gegenlicht auf, häufig sind die Figuren nur schemenhaft zu erkennen. Hinzu kommt Stroboskoplicht, zwischendurch wird das Bild ganz in weiß getaucht.
Diese Extremformen des Lichtes verweisen damit immer auch auf eine Ästhetisierung von Störungen. Auffällig gerade in den ganz in weiß getauchten Bildern. Es kommt zu einer Reizüberflutung, der Zuschauer wird überwältigt von der hell leuchtenden Mattscheibe und soll so über die performative Wirkungsdimension der Rausch nachempfinden. All diese Lichtgestaltungen stehen im Kontrast zum kalten, sterilen Neonlicht des Verhörraums. Begleitet werden die Bilder von der Erzählung Ritas, die auch inhaltlich auf die besondere Qualität der Lichtempfindung während des Rausches hinweist: "Die ersten Sekunden [des Crystal Meth Rausches], das ist wie, als wenn in dir drin alles leuchtet. Es wird ganz warm, dein Herz, das schlägt schnell." Diese Erzählungen Ritas helfen zugleich, die Perspektive der Bilder zu bestimmen. Nicht zuletzt die vielen Großaufnahmen verweisen darauf, dass der Point of View hier in die Perspektive der Berauschten tritt, es sich also um keine naturalistischen Aufnahmen handelt, sondern die filmischen Lichtfilter vielmehr die subjektive Verzerrung durch die Euphorie des Rausches ausdrücken. Hierdurch kann den Bildern eine gewisse Brisanz zugestanden werden, da die moralisch distanzierte Sichtweise hin zur subjektiven geöffnet wird. Gerade die schnellen Schnitte erzeugen auch eine Art visuellen Rausch und eröffnen damit die Möglichkeit, die Faszination des Rausches substitutiv zumindest in Teilen nachzuempfinden.
Abgesehen davon wird zur Umsetzung des Rausches auf viele etablierte Techniken zurückgegriffen, so kommt es etwa zu kurzen Detailaufnahmen der Substanz, die durch die starke Vergrößerung ästhetisiert wird. Hinzu kommt der Einsatz von wackeligen Handkameraaufnahmen, die eine große Nähe vermitteln. Und schließlich wird zur Darstellung der tanzenden Masse auf eine Totale zurückgegriffen, die zusammen mit Musik- und Lichtgestaltung die Körper als einheitliche, sich rythmisch bewegende Masse erscheinen lässt.
Diese lange Sequenz stellt somit einen offensichtlichen Kontrast zu der stark negativen "Junkieinszenierung" der vorherigen Szenen da, durch die beschriebene aufwendige audiovisuelle Gestaltung kann ihr fast eine Verherrlichung des Rausches unterstellt werden. Die Erzählung Ritas kippt jedoch, auf die anfängliche Euphorie folgt schon bald suchtbedingte Verzweiflung:
Abbildung 4: Absturz. Quelle: "Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel", R.: Christian Schwochow, D 2014. Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Abb. 4 gibt ausschnitthaft die Visualisierungen des Triumphs der Sucht und des damit verbundenen Absturzes wieder. Angefangen mit der Totalisierung des Rausches: Eine Injektionsszene verweist auf die Suche nach der möglich stärksten Wirkung der Substanz. Injektionsszenen sind fast in jedem Drogenfilm zu finden, sie bergen entsprechend eine Reihe von Deutungen, am offensichtlichsten ist sicherlich der schockierende Effekt. Desweiteren stellen sie, wie auch hier, oftmals den endgültigen Absturz des regelmäßigen Drogenkonsumenten dar; die Substanz dringt jetzt mit Hilfe eines Fremdkörpers direkt in die Haut des Betroffenen ein, sie vermischt sich mit der Blutbahn und hinterlässt körperliche Spuren, innere und äußere körperliche Unversehrtheit gehen zugleich verloren. Die folgende Großaufnahme wirkt durch die extreme Mimik entsprechend auch nicht mehr identifikationsstiftend, wie die Großaufnahmen zuvor, sondern lädt eher zur Distanzierung ein. Es kommt dann zur völligen Unterwerfung und Demütigung durch die Droge, Rita bittet auf allen Vieren um Stoffnachschub. Neben dem Symbol der Unterwerfung verweist diese 'hundeartige' Position - sofern diese evtl. Überinterpretation hier erlaubt sei - auf die Bedeutung des Hundemotivs in der griechischen Antike, so deutet der Hundekopf in der damaligen Kunst auf die Erinnyen hin; der Verweis auf die Rachegötter würde somit auf die Sucht als 'Rache' und Heimsuchung infolge des Rausches anspielen. Entsprechend umfasst Mike Ritas Kopf wie den eines Hundes, ein Motiv, dass in der beschriebenen Bedeutung prominent in Max Frischs Homo Faber auftaucht. Abgesehen von dieser sicherlich etwas weitgehenden Deutung erleidet Rita noch Halluzinationen als Entzugserscheinung. Grundsätzlich fällt ihr entrückter Blick auf, zu dem Mike keinen Zugang mehr findet und der sich schließlich ganz von ihm abwendet, hin zum leeren Raum, der durch sein Nichts auf die Eindringlichkeit und Realität der Halluzination verweist.
Es kommt hier also zur Entzauberung der Droge, passend dazu wieder der Einsatz der entsättigten Farben. Der Ausflug in die subjektive Rauschwelt ist beendet, nur die Halluzination flackert als letztes Überbleibsel des Eintauchens in die Perspektive Ritas auf. Insgesamt wird also das sehr ambivalente Bild einer Crystal Meth Abhängigen gezeichnet, welches auch Annäherungen an das Faszinosum der Droge wagt. Diese Zeichnung einer stereotypen Drogenkarriere steht jedoch insofern etwas im leeren Raum, als dass wenig auf die eigentlichen Ursachen des Drogenkonsums eingegangen wird. Auf den ersten Blick scheint der Reiz der ersten Trips sowie die Verführung durch den neuen Freund bzw. das neue Umfeld nachvollziehbar, auf tieferliegende gesellschaftliche oder persönliche Gründe wird allerdings nicht eingegangen, was negativ natürlich auch in eine Mystifizierung der Droge münden kann, eben die Sicht auf sie als regelrechte Naturkatastrophe, wie die Betitelung als Pest zeigt. Andererseits ist natürlich gerade das Tatortformat nicht zuletzt in der verfügbaren Länge stark eingegrenzt. Diese 'erzwungene' Kürze zeigt sich deutlich an den anderen Drogensüchtigen, die im Film auftreten:
Abbildung 5: Panorama der Süchtigen. Quelle: "Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel", R.: Christian Schwochow, D 2014. Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Hierbei dominieren wieder distanzierte, grau gehaltene Bilder; lediglich in einer Szene wird noch einmal der Rausch in bunten Farben gezeigt, diese sind jedoch deutlich kühler und zurückhaltender gestaltet als zuvor. Insgesamt vermittelt die Szene durch ihre Verortung in einem engen Kellerraum sowie durch einen hektischen, unübersichtlichen Schnitt eher das Gefühl von Orientierungslosigkeit und Beklemmung, das Verhalten zeichnet sich entsprechend durch aggressive Tendenzen aus. Auch die anderen Figuren werden rein negativ gezeichnet, zu sehen sind wieder viele Hautabszesse, zugleich haben viele der Figuren ihre Fähigkeit zur Artikulation verloren sowie jeglichen Ansatz von intellektuellen Fähigkeiten. Die Figurenzeichnung bleibt hier also eindimensional, 'verblödete' Junkies und 'sprachunfähige' Bauern sollen ein Panorama der gesellschaftlichen Tiefenwirkung der Droge darstellen, gebieren sich aber durch den Verzicht auf Einfühlung und reflektierte Hinterfragung letztlich nur als Klischees. Im Kopf des Zuschauers bleiben wohl er die Farbexplosionen und Zusammenbrüche Ritas, an der sich der Hauptprotagonist Crystal Meth voll und ganz entfaltet.

Sonntag, 25. Januar 2015

"Entourage" (HBO, USA 2004-2011) (II) / "True Detective" (HBO, USA 2014- ) (II)

Im Nachgang zum letzten Eintrag zur Serie Entourage (HBO, USA 2004-2011) stieß ich auf interessante Überlegungen zum Motiv des Rituales, die in gewisser Weise eine Verbindung zur ebenfalls behandelten Serie True Detective (HBO, USA 2014- ) herstellen. So führt Ulrike Brunotte in ihren Überlegungen zu den Veränderungen der Ritualtheorie Anfang des 20. Jahrunderts aus:

Die äußere Natur wird als Bezugsrahmen von Ritualen mehr oder weniger verlassen, und der soziale Raum als ein performativ gebildeter mitsamt der in ihm agierenden und zivilisierten kollektiven inneren Natur betreten. Rituale werden im emphatischen Sinne als Medien von Massenerregungen, festlicher Selbstwahrnehmung und Vergemeinschaftung verhandelt. In ihnen löst sich nach Durkheim die Trennung der arbeitsteilig atomisierten Individuen in der Weise auf, wie ein zwischen Subjekt und Objekt changierender medialer Raum geschaffen wird, ein kollektiver Erregungs- und Affektraum, der zugleich erhöhte Selbstwahrnehmung ermögliche und die ‚Geburtsstätte‘ der ‚religiösen Idee‘ – des ‚Göttlichen‘ sei.
(Brunotte 2011: 87)


Diese wissenschaftstheoretischen Überlegungen, die auf Vorgänge wie die Industrialisierung und die Bürokratisierung der Gesellschaft abzielen, können in meinen Augen auch produktiv in Bezug auf Entourage und True Detective angewandt werden - was auf den ersten Blick vielleicht etwas weit her geholt wirkt, aber nicht zuletzt eröffent ein Blog eben für solche abschweifenderen Gedanken Raum. Ganz oberflächlich verweisen Begriffe wie festliche Selbstwahrnehmung und Vergemeinschaftung auf die bereits beschriebene topographische Spannung der analysierten Entourage Folge zwischen naturhaften Nationalpark und kulturisierter Lebenswelt. Filmisch zeigen sich diese Aspekte etwa in dem Motiv der wandernden Gefährten oder auch in Vinces innerer Suche nach der richtigen Entscheidung, die er durch die drogenbedingt gesteigerte Selbstwahrnehmung besser zu finden hofft:
Abbildung 1: Filmische Motive. Quelle: "Entourage" (HBO, USA 2004-2011). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Wenngleich sich der Aspekt der Masse inhaltlich in diesem Beispiel eher weniger ausmachen lässt, zeigen sich in meinen Augen Referenzen auf ein kollektives Unterbewusstsein: Es geht um Fragen des "guten Lebens", d.h. um existentielle Entscheidungen, in die das Individuum durch die Wandel innerhalb der modernen Gesellschaft getrieben wird. Und hier kommt dann doch wieder der Aspekt der Masse hinzu, insofern als bsph. Vince und Ari als Identifikationsflächen dienen können, die durch ihren Rausch überaffektiert universelle Probleme verkörpern: etwa das Dilemma zwischen wirtschaftlichen Erfolg und persönlichem Idealismus (wenn Vince zwischen 'stumpfer' Blockbuster Hauptrolle und 'schlecht' bezahlter anspruchsvoller Nebenrolle schwankt) oder Hedonismus und Verantwortung (wenn Ari sich (wenngleich etwas ungewollt) seinen Sinnesrausch hingeben will und gleichzeitig diesen Kontrollverlust vor der Familie, als deren 'Oberhaupt' er sich begreift, verbergen muss).
Durch den Rausch werden die Figuren zu Verkörperungen dieser oft unterdrückten Spannungen und können sie zugleich in ihrer Entgrenzung überzeichnet ausleben. Die Folge tritt hierdurch, wie auch schon topographisch, aus den eigentlich "Sitcom-Trott", wodurch sie wie das Ritual eine gesonderte Stellung jenseits des Alltags einnimmt und zum gemeinsamen Affektraum werden kann. Diese Gedanken klingen durchaus etwas hochtrabend, könnten aber ein Ansatz sein, um sich den Rauschszenen von Serien zu näheren. In diesen kommt es oftmals zu Grenzerfahrungen, insbesondere Regulierungen des Verhaltens werden gebrochen; der Zuschauer kann dann in diesen Szenen Tabubrüche identifikatorisch miterleben, ohne deren Konsquenzen zu erleiden - also klassische eskapistische Ansätze. Berechtigter Kritikpunkt wäre aber unter anderem die Frage, warum diese Momente auf Rauschszenen begrenzt sein müssen; ebenso kann die oft distanzierte Darstellung von Rauschzuständen wie in Entourage als Einwand erhoben werden.
Diese Fragestellung wird sicherlich in kommenden Beiträgen zu weiteren Rauschszenen in Serien noch relevant werden, an dieser Stelle würde ich nun gerne noch auf True Detective eingehen, um einen Aspekt des Rituals zu betrachten: "die ‚Geburtsstätte‘ der ‚religiösen Idee‘". Mit True Detective habe ich mich bereits in einem früheren Beitrag beschäftigt, dort war viel von der stoischen, abgestumpften Persönlichkeit Rusts, der Betäubung durch und dem Versinken im Alkohol und letztlich dem Weg in den Abgrund des Charakters die Rede.
So dominant diese Charaktereigenschaften auch auftreten, gibt es dennoch figürliche Aspekte jenseits von ihnen, auf die ich nicht einging. Gemeint sind zwei besondere Qualitäten Rusts: Auf der einen Seite fällt er in den Verhören von Verdächtigen immer wieder durch sein besonderes Einfühlungsvermögen auf, auf der anderen Seite erleidet er in der Serie mehrfach Visionen. Diese Eigenschaften hängen in meinen Augen eng zusammen, sie sind Ausdruck der haltlosen Persönlichkeit Rusts, die durch ihre 'Abgründigkeit' sich ganz den Fällen hingeben kann und so etwa auch die 'dämonischen' Gedankengänge moralisch fragwürdig Agierender nachfühlend durchschreiten kann. Diese Einfühlung findet ihren Höhepunkt in den Momenten der Visionen, deren nicht zuletzt ontologischer Status unklar bleibt:
Abbildung 2: Visionen Rusts. Quelle: "True Detective" (HBO, USA 2014- ). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Abb. 2 zeigt zwei Szenen, in denen Rust Visionen erfährt. In der ersten Szene konsumiert er starke Medikamente, befindet sich also in einem Drogenrausch; in der zweiten Szene ist er mit seinem Partner unterwegs und erblickt die Vision untervermittelt als er aus dem Auto steigt. Rust selbst erklärt die Visionen als Nervenschäden in Folge des Drogenskonsums während seiner Zeit als Undercoverpolizist. Gerade die zweite Szene zeigt die Schwierigkeit der Verortung dieser Visionen, durch die Over-the-Shoulder Perspektive entsteht der Eindruck, als würde der Zuschauer in die subjektive Perspektive Rusts eintreten. Diese subjektive Perspektive wird durch das irreale Schauspiel am Himmel unterstützt, welches so als Halluzination erklärt werden kann und dadurch nicht in Konflikt bspw. mit den Naturgesetzen tritt. Es zeigt sich die grundlegende Spannung, dass der Zuschauer entweder an der geistigen Verfasstheit Rusts oder der realistischen Ausgestaltung der diegetischen Welt zweifeln muss.
Hier durch kommt es in gewisser Weise zu einem zwischen Subjekt und Objekt changierenden, medialen Raum, wie er im Eingangszitat beschrieben wird. Und weiter gedacht wird auch die Individuation der Welt aufgelöst, da Rust in diesem Moment eins mit der Welt wird, so gibt ihm etwa die Natur Hinweise in seinem Fall: das im letzten Screenshot von den Vögeln verkörperte Symbol ist eben jenes, welches die Ermittler zu Beginn der Serie auf dem Rücken des Mordopfers finden.
Auch diese Szenen stellen damit wie die Sequenzen aus Entourage einen gesonderten Bereich innerhalb der Serie da, Rust verlässt momenthaft die alltägliche individuelle Weltwahrnehmung, und der Point of View folgt ihn im Form des Perspektivwechsels. Das erscheinende Zeichen markiert den Raum, den Rust Betritt: Er taucht ein in die Bewusstseinswelt des Täters, welcher durch den Ritualmord zu Beginn der Serie dieses Zeichen korporalisierte. Dieses Zeichen wiederum entstammt in meinen Augen der okkulten, radikalisierten Deutung von spirituellen Tendenzen, die durchaus in einer Art kollektiven Unterbewusstsein florieren. So finden sich in True Detecitve immer wieder Landschaftsaufnahmen sowie Aussagen über die religiöse Prägung Louisianas; die Sumpflandschaft sowie das feuchte Klima verweisen dabei auf Aspekte wie Fruchtbarkeit und Wandel, die religiöse Prägung auf affektiv aufgeladene Religionspraktiken, in denen bspw. der Zustand der religiösen Ekstase eine besondere Stellung einnimmt. Die Visionen können so als die subjektive Variationsform des Erlebens dieser ekstatischen Tendenzen durch Rust gedeutet werden, er gibt sich der Sphäre zwischen dem kollektiven Pol sowie dem individuellen Pol des Täters hin und wird so zum Medium, dass zwischen dieser Welt und der alltäglichen vermitteln kann. Möglich wird ihm dies durch seine 'Abgründigkeit', die insbesondere das bedingungslose Nachfühlen ermöglicht.
Zugleich können diese Visionen, da sie im Massenmedium des Fernsehes auftreten und natürlich auch an den Zuschauer gerichtet sind, auch als Konkretisierung der beschriebene Tendenzen wie Fruchtbarkeit und Religiösität des kollektiven Unterbewusstseins dieser Region beschrieben werden, wird das filmische Material hier als auch wie bei Entourage zur entgrenzten Identifikationsfläche für den Zuschauer. Um wieder auf das Zitat zurückzugreifen: die Szenen betreten den sozialen Raum, der "als ein performativ gebildeter mitsamt der in ihm agierenden und zivilisierten kollektiven inneren Natur" erscheint. Gebildet wird dieser Raum durch die Figuren, welche durch den Rausch die Individualisierung hin zu kollektiven (oftmals unterbewussten) 'Räumen' verlassen und so zu Medien werden können, wobei das audiovisuelle Medium wiederum diese besondere Wahrnehmung durch die beschriebenen verschiedenen Inszenierungsstrategien vermittelt.


Literaturhinweise:
Brunotte, Ulrike: „Das Ritual als Medium ‚göttlicher Gemeinschaft‘. Die Entdeckung des Sozialen bei Robertson Smith und Jane Ellen Harrison.“ In: Fischer-Lichte, Erika; Horn, Christian; Umathum, Sandra; Warstat, Matthias: Wahrnehmung und Medialität. Theatralität Band 3, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte. Francke Verlag: Tübingen/Basel 2001, S.85-102.

Sonntag, 18. Januar 2015

"Entourage" (HBO, USA 2004-2011)

Von 2004 bis 2011 wurde in den USA die HBO-Serie Entourage gesendet, die sich - wie der Name schon andeutet - um den aufstrebenden Hollywoodstar Vincent Chase dreht, der versucht mit Hilfe seiner Schulfreunde Eric und Turtle sowie seinem Bruder Drama die Fallstricke und Anforderungen einer Karriere als Filmstar zu meistern. Neben kritischen Anklägen zelebriert die Serie zugleich ausgiebig das hedonistische Leben in Los Angeles. Nicht zuletzt wohl auch dem Bundesland geschuldet sind die vier Freunde in der Serie durchgängig am kiffen und nehmen rege am Nachtleben teil - sie sind also gut integriert in den rauschhaften Alltag Hollywoods. Nur selten wird der Drogenkonsum dabei kritisiert. So gibt es etwa eine Folge, in der Drama vor einem Dreh zuviel Marihuana konsumiert und anschließend eine Panikattacke erleidet. Auch diese Szene ist jedoch wie der Großteil der Serie komödiantisch angelegt.
Tiefergehende Risse erleidet die Darstellung der Vergnügungsgesellschaft jedoch erst kurz vor dem Ende der Serie als die Suchtgefahr übermäßigen Schmerzmittelkonsums in Verbindung mit anderen illegalen Drogen thematisiert wird. In den dazu gehörigen Folgen wird entsprechend die tragische Dimension deutlich hergehoben und tiefergehend nachgezeichnet, wodurch auch in diesen Folgen auch ein Bruch mit komödiantischen Filmstil zu erkennen ist (wie in der ganzen Serie wird auch hier ein scheinbar unumgänglicher 'Meilenstein' einer Schauspielkarriere nachgezeichnet: die Festnahme eines Stars mit Drogenproblem, die medial ausgeschlachtet wird und in dem Aufenthalt in einer luxuriösen Entzugsanstalt mündet, ein Motiv dass u.a. im Beitrag zu Californication bereits eine Rolle spielte).
In diesem Beitrag soll es jedoch um die fünfte Folge aus der fünften Staffel gehen, die den Namen "Tree Trippers" ("Die Reise ins Ich") trägt und 5. Oktober 2008 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Zu Beginn der Folge stehen die Freunde vor einer schwerwiegenden Entscheidung in Bezug auf Vinces Karriere: Er würde gerne in einem bestimmten Film mitspielen, steht jedoch in Konflikt mit dem produzierenden Studio; alternativ wurde ihm die Hauptrolle in einem Film über einem Hund angeboten, die er an sich aus künstlerischen Gründen ablehnen würde. Gefangen in diesem Dilemma, entscheiden sie, in die 'Wüste' zu fahren (damit ist der Joshua Tree National Park gemeint), um psychedelische Pilze zu konsumieren und so die wahre Entscheidung zu finden. Begleitet werden sie dabei von ihrem Agenten Ari Gold sowie dem befreundeten Eric Roberts.
Abbildung 1: Einnahme der Pilze. Quelle: "Entourage" (HBO, USA 2004-2011). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Abb. 1 zeigt die Einnahme der entsprechenden Pilze. Hierbei zögert zumindest Ari einen kurzen Moment und weist auf seine Angst vor Kontrollverlust als Wirkung der Pilze hin. Auf seine Einwände wird allerdings nicht weiter eingegangen, stattdessen fügt er sich dem Gruppendruck und konsumiert auch Pilze. Dem gegenüber stehen die Ausführungen Eric Roberts, der als eine Art Guru inszeniert wird und durch sein expressives Spiel auffällt, dem immerzu ein Moment der Unberechenbarkeit innewohnt. Die Wirkung beginnt dann langsam einzusetzen, wobei der Prozess fast unmerklich vor sich geht, wie auf dem rechten Bild deutlich wird. Die Umgebung wird als menschenverlassene Gegend inszeniert, wozu oft auf Totale zurückgegriffen wird. Die Betitelung als Natur ist jedoch auch interdiegetisch immer schon gebrochen, so ist deutlich ein ironischer Unterton zu hören, ebenso bleibt etwa Aris Handy intakt, es kommt lediglich zu vereinzelten Empfangsstörungen.
Dennoch wird der Ort programmatisch für das Verhalten der Figuren. So stellt der Nationalpark einen Grenzort zwischen Natur und Kultur dar. Auf der einen Seite ist er naturhaft in dem Sinne, als dass er der Umwelt ein Schutzgebiet vor dem Eingriff des Menschen bietet. Auf der anderen Seite ist dieser Naturcharakter jedoch insofern inkonsequent, als dass der Park als solcher klar umgrenzt ist, d.h. im Ganzen der Natur ein freies Wachstum nur innerhalb bestimmter Zonen zugestanden wird. Außerdem steht er natürlich unter dem Einfluss der vom Menschen geprägten, d.h. kultisierten, Umgebung, oftmals soll er sogar die dort betriebenen Naturschäden wie die Verschmutzung der Luft ausgleichen. Er wird nun insofern programmatisch für die Figuren, als dass diese sich auch immer stärker aus konventionalisierten Verhaltensmustern hinausbewegen, diese jedoch zugleich nie gänzlich verlassen.
Abb. 2: Ari zwischen Rausch und Alltag. Quelle: "Entourage" (HBO, USA 2004-2011). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.

Dieses zeichnet sich am deutlichsten in dem Verhalten Aris ab. Fast blitzartig wechsel er zwischen berauschtem und rationalem Zustand. Dieses zeigt sich u.a. in den ersten beiden Bildern von Abb. 2, Ari telefoniert mit seiner Familie und versucht dabei ernsthaft und fokussiert zu bleiben, zwischendurch schweift er aber immer wieder unkontrolliert ab und schaut bspw. fasziniert in die Sonne. Hier zeigt sich auf der einen Seite die starke Wirkung der halluzinogenen Pilze, der Konsument verliert in Teilen die Kontrolle über seine Wahrnehmung und seine Handlungen. Auf der anderen Seite werden hiermit zugleich Aussagen über die Wirkungsweise der Droge gemacht. Das Schauen in die Sonne oder auch die irritierte Betrachtung der eigenen Hände sind Symptome einer deutlich veränderten Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen. Konkret scheint in dem Konsumenten eine neue Empfindlichkeit zu entstehen, die sich in einer qualitativen Veränderung der sinnlichen Weltrezeption wie auch in der mangelhaften Selektion dieser Eindrücke widerspiegelt. Diese Überempfindlichkeit zeigt sich dann als Überwältigung, hier taucht also der Konflikt zwischen Natur und Kultur in gewisser Weise wieder hervor. Die extreme Intensität der Weltrezeption kann als eine tendenzielle Symbiose mit der Natur gedeutet werden, der Mensch erkennt die Schönheit der Natur und durchfühlt sie ekstatisch. Dem steht das kulturell tradierte Verhalten gegenüber, welches u.a. durch Selektionsprozesse und Distanznahme die Natur nur unter funktionellen Deutungsmustern wahrnimmt, die so z.B. situativ die Sinneseindrücke quasi ausblenden. Durch die psychoaktive Substanz kommt es bei Ari also zum Wechsel dieser beiden Wahrnehmungsarten, der parodistisch überzeichnet abgebildet wird.
Abb. 3: Überzeichnete Rauschszenen. Quelle: "Entourage" (HBO, USA 2004-2011). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Diese kommödiantische Ausrichtung zeigt sich auch in anderen Szenen der Folge. So stellen die ersten beiden Screenshots in Abb. 3 Auszüge aus einer Situation dar, in welcher Drama einen Stein für den Hund der Gruppe hält. Ähnlich kommödiantisch überzeichnet ist die Szene des dritten Bildes, in der Vince den Filmtitel des 'Hundesfilms' immer wieder überbetont ausspricht, um so eine intuitive Entscheidung für oder gegen den Film fällen zu können. Die durchaus auch als negativ wahrnehmbaren Wirkungen wie die Halluzinationen werden dementsprechend auch eher amüsant dargestellt. Diese ironisch überzeichnete Pathetik der Wanderschaft der Protagonisten (auf dem letzten Bild von Abb. 3 sehr deutlich erkennbar etwa in dem blendenden Gegenlicht der Abendsonne) findet erst ganz am Ende der Folge in eine gewisse Ernsthaftigkeit zurück, wenn Vince auf dem Rückweg aus der Wüste eine Art Vision hat und die Entscheidung für einen der Filme fällt. Diese Szene wird damit auch zur Verschmelzung von Kultur und Natur, Nüchternheit und Rausch: die Halluzination tritt im kulturalisierten Gebiet der Straße auf, wodurch sie auch Wirkmacht in dieser Sphäre erhält und so durch ihre entscheidungstragende Bedeutung die Differenz zwischen beiden Welt zumindest für einen Moment außer Kraft setzt. Somit glückt die 'ganzheitliche' Lösung der für die Lebensplanung schwerwiegenden Frage in diesem Sinne.

Freitag, 2. Januar 2015

Gottfried Benn: "O Nacht -:"

Neben "Cocain" beschäftigt Gottfried Benn sich auch in dem Gedicht "O Nacht -:" (Gedicht weiter unten) mit dem Kokainkonsum. Dieses wirkt auf den ersten Blick deutlich zugänglicher: So werden in der ersten Strophe keine komplexen Metaphern eröffnet, keine schwer zugänglichen Gedanken präsentiert. Vielmehr liegt hier ein sehr alltäglicher Wunsch des lyrischen Ichs vor, dass das eigene Alter, d.h. die nahende Vergängnis, spürt und entsprechend hedonistisch die (scheinbar letzten) lebenswerte Momente genießen will.
Hierzu wird die Nacht als Ort der Ausschweifung angerufen und beschworen, das Kokain dient als eine Art Zaubermittel, um diesen Vorgang zu initiieren oder auch zu beschleunigen. Die Wirkung des Kokains zeichnet sich direkt ab, so stellen die ersten beiden Verse noch ruhige Sätze da, wohingegen die folgenden beiden durch eine Interpunktion bzw. durch eine Wiederholung klingen, als wären sie im Rausch ausgesprochen. Sie wirken nicht wohl ausformuliert, sondern übersteigert gestammelt, gerade in dem doppelten "ich muß" zeigt sich die aufputschende Wirkung der Droge. So hebt sich die erste Strophe auch in ihrer Länge von den restlichen ab, da die anderen über je nur vier Verse verfügen. Dieses könnte Folge des Überschwangs der ersten Kokainwirkung sein; es könnte aber auch als Verweis darauf gedeutet werden, dass das "Vergängnis" längst im Gange ist, der Wunsch nach dem letzten Ausschweifen eine unangemessene Forderung an ein längst ruhiger gewordenes Leben ist, ausgedrückt durch die "Überlänge".
In der zweiten Strophe präzisiert das lyrische Ich seine Wünsche, wobei es diese in sehr plastische Bilder transformiert.So werden physische Vergleiche gezogen, die Rede ist von "Zusammenballung", "Wallung" und "Raumverdrang". Diese stehen dem abstrakten inneren Zustand des "Ichgefühls" konträr gegenüber. Auch hier sind die Auflistungen und Wiederholungen auffällig, der Text wird zu einem beschwörenden Stammeln. Es werden konkrete Forderungen an die Nacht und, damit eng verbunden, den rauschhaften Zustand gestellt. Auch die nächste Strophe weist diese zerrissene Struktur auf, die inhaltlich durch die Komposition "Worte-Wolkenbrüche[n]" beschrieben wird. Inhaltlich kommt es zu einer Adaption medizinischer Begriffe, die auf die kleinsten Teile des menschlichen Körpers abzielen ("Körperchen", "Zellen"). Es entsteht der Eindruck eines sich auflösenden Bewusstseins, welches nicht mehr statisch erfasst werden kann, sondern sich nur bewegend ("ein Hin und Her") und entziehend zeigt. Gerade dieses unfassbar werden zeigt sich in der Unmöglichkeit der Verortung: "zu tief im Hirn, zu schmal im Traum". Es kommt hier zu kühnen Metaphern, lässt sich tief in Hirn bspw. noch psychoanalytisch verstehen, kann nur erahnt werden, inwiefern das Erlebnis oder auch der Eindruck im Traum zu schmal ist. Es könnte u.a. als Aufwertung der Nachterfahrung gedeutet werden, die nicht als "unwirklicher" Traum, sondern als reales Erlebnis aufgefasst wird.
Es folgt die Benennung der eigentlichen "Opposition", das "Ding-Gewerde". Die eingangs beschriebene Vergänglichkeit wird nun deutlich weiter gefasst, so schwenkt in meinen Augen das Gedicht hier auf existentielle Fragen. Das lyrische Ich stellt das Ichgefühl dem Menschwerden und noch allgemeiner dem überhaupt materiell werden gegenüber. Es eröffnet die klassische Subjekt-Objekt-/Geist-Materie-Spaltung, wobei der Geist hier ein dekonstruierter ist, es ist vom "Schädel-Flederwisch" die Rede. Dieser sich auflösende Geist ist auf der Suche nach einem neuen Aggregatszustand, einer Form, wobei etwas unklar bleibt, inwiefern hier die äußere Welt doch wieder für das Ichgefühl benötigt wird.
So wird die Nacht als Körper- bzw. Formgeber angesprochen ("o leih mir Stirn und Haar"), was in einer mythischen Geburtsszene mündet. In pantheistischer Manier wird die Nacht beschworen, der Kelch wird als Symbol der Fruchtbarkeit angerufen, die Krone als weltliches Symbol mit einbezogen ("sei, die mich aus der Nervenmythe / zu Kelch und Krone heimgebar"). Diese sagenumwobende Atmosphäre kulminiert dann in der letzten Strophe: "Es sternt mich an - es ist kein Spott -: / Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, / sich groß um einen Donner sammeln."
Gleich zu Beginn des zweiten Verses wird die kosmische Dimension verdeutlicht, das lyrische Ich wird "angesternt". Hier taucht zum dritten Mal eine typographische Besonderheit auf, die auf den ersten Blick irritiert: "-:". In der dritten Strophe signalisiert diese Besonderheit das Versagen der Sprache. In der letzten Strophe hingegen zeigt der Gedankenstrich einen Einschub an, welcher erneut die Ernsthaftigkeit des Erlebnisses betont. Der Doppelpunkt wird aber kurz später erneut bedeutungstragend, so kommt es wieder zu einer Art Stammeln des lyrischen Ichs: "ich: mich, einsamen Gott". Nur die Interpunktion hält "ich" und "mich" zusammen. Diese Art der Verbindung kann als eine Art Selbstvergewisserung gedeutet werden, das Ich stellt nur noch den Bezug zu sich selbst her. Hiermit schließt sich der Kreis zum anfänglichen Ichgefühl: In der rauschhaften Nacht kommt es im Bewusstsein zum zirkulären Schluss. Auflösung und Formenwandel werden zu Äußerlichkeiten, deren Abstreifung und Durchwanderung sich um den nicht wandelbaren Kern, das Ich, anhäufen. Paradoxer Weise ist dieses Ich aber immer schon ein sich entziehendes, dass ohne diese Prozesse nicht wahrnehmbar wäre. Hier stellt sich dann wieder die Frage nach der Funktion des Rausches, d.h. ob er somit ein notwendiger Vorgang zur "Ertastung" des eigenen Ichs ist oder nicht letztlich doch nur Weltflucht, also hier konkret Flucht vor dem altersbedingten Verfall des Körpers.


O Nacht -:

O Nacht! Ich nahm schon Kokain, / und Blutverteilung ist im Gange,
das Haar wird grau, die Jahre fliehn / ich muß, ich muß im Überschwange
noch einmal vorm Vergängnis blühn.

O Nacht! Ich will ja nicht so viel, / ein kleines Stück Zusammenballung,
ein Abendnebel, eine Wallung / von Raumverdrang, von Ichgefühl.

Tastkörperchen, Rotzellensaum, / ein Hin und Her und mit Gerüchen,
zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen -: / zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.

Die Steine flügeln an die Erde, / nach kleinen Schatten schnappt der Fisch,
nur tückisch durch das Ding-Gewerde / taumelt der Schädel-Flederwisch.

O Nacht! Ich mag dich kaum bemühn! / Ein kleines Stück nur, eine Spange
von Ichgefühl - im Überschwange / noch einmal vorm Vergängnis blühn!

O Nacht, o leih mir Stirn und Haar, / verfließ dich um das Tag-verblühte;
sei, die mich aus der Nervenmythe / zu Kelch und Krone heimgebar.

O still! Ich spüre kleines Rammeln: / Es sternt mich an - es ist kein Spott -:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, / sich groß um einen Donner sammeln.

(Quelle: Benn Gottfried: "O Nacht -:". In: ders.: Gedichte. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8480. Philipp Reclam jun.: Stuttgart 2006. S. 24/25.)