Freitag, 7. November 2014

"Polizeiruf 110: Familiensache"

Der Polizeiruf vom 02. November 2014 (Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014) bot relativ zu Beginn eine interessante Szene, die eine Art Mischung von Blutrausch und Liebesrausch darstellt - wobei hier gleich eingeworfen sei, dass das Wort "Liebesrausch" insofern problematisch ist, als dass es sich eher um eine pathologische Obsession handelt. Diese mentale Disposition wird gleich in der aller ersten Szene deutlich, die aus einer langen Großaufnahme des Antagonisten besteht:
Abbildung 1: Großaufnahme des Antagonisten. Quelle: Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014. Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Rein dramaturgisches wird hier der Fokus des Zuschauers direkt auf diese Figur gerichtet, ihm wird also eine besondere Rolle im folgenden Film zugeschrieben. Auffällig ist die Statik der Kamera und die Größe der Einstellung: Die Mimik tritt dominant in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Entsprechend ist auch die eigentliche Handlung dieser Szene die Handlung der Mimik, welche als Repräsentant des Innenlebens der Figur angesehen werden kann. Dieses ist nun zweifelsohne eine sehr pragmatische Setzung, ist die Frage nach der Darstellung von Subjektivität gerade in Bezug auf Rausch doch eine deutlich komplexere. In diesem konkreten Fall ist aber auffällig, dass etwas Spezielles in der Figur passiert, sie spannt die Gesichtzüge an, schließt die Augen und öffnet die Augen anschließend mit gelöstem Gesichtsausdruck (vgl. Abb. 1). Der Blick ist hierbei allerdings nicht in die Kamera gerichtet, sondern scheint ins Leere zugehen, was nicht zuletzt daraus geschlossen werden kann, dass die Figur auf dem Boden liegt. Diese kann dann auch schon als Andeutung für die extremene Ausprägung der Emotionen dieser Figur angesehen werden, an der sich diese überzeichnete Mimik abarbeitet.
Diese Extremität der Gefühle zeigt sich dann in einer Szene kurz darauf, in welcher es zum Blutrausch kommt. Die Szene bildet auf der einen Seite das für Krimiserien obligatorische Verbrechen ab, d.h. den eigentlichen Beginn der Handlung. Gleichzeitig stellt es die Eskalation der Vorgeschichte dar, welche versucht, die Motivation der Tat zu fassen und zugleich im ganzen Film in Form von Rückblenden oder als Inhalt der Figurenrede präsent ist. Der Antagonist wurde von seiner Frau verlassen, welche fortan das Sorgerecht für die beiden Kinder hat. Mutmaßliche Ursache sind seine emotionalen Ausbrüche, er selbst reduziert den Grund hierfür jedoch allein auf sein wirtschaftliches Scheitern. Durch den Kauf eines Hauses, das er nicht finanzieren kann, glaubt er nun irrtümlich, die Familie wiederherstellen zu können. In der entscheidenden Szene kommt es zur Konfrontation dieser beiden Perspektiven: Er versucht seine Frau durch die Rede vom Hauskauf zurückzugewinnen, während sie ihm deutlich macht, dass dieses für ihre Beziehung keine Rolle spielt und das Ende ihrer Beziehung für sie logischer Weise endgültig ist. Der Antagonist kann dieses nicht verarbeiten und tötet daraufhin seine Frau und eines seiner Kinder. Es folgt ein Amoklauf gegen die weiteren Mitglieder der Familie. An dieser Stelle soll jedoch die beschriebene Szene behandelt werden. Sie ist sehr aufschlußreich gestaltet, weswegen sie hier umfangreich abgebildet sei:
Abbildung 2: Aussprache und Mord an Ehefrau. Quelle: Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014. Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Gleich zu Beginn der Szene fällt auf, dass ein Motiv der Anfangsszene wieder aufgeriffen wird: Die Figur blickt ins Leere und entzieht sich so dem Blick der Kamera. Die Wahrnehmung richtet sich hierdurch wieder auf das Innenleben der Figur; der Zuschauer kann annehmen, dass hier innerlich etwas passiert. Die folgenden Geschehnisse werden dann auch direkt durch eine Prolepse angedeutet: Man sieht den Protagonisten von hinten, mit zitternder, blutender Hand. Seine Abkehr von der Kamera lenkt den Blick direkt auf die Hand; man ahnt, dass etwas Schlimmes passiert ist, ohne den Blick auf das Gesicht bleibt aber unklar, was genau passiert ist (d.h. ob er sich um Täter oder Opfer handelt etc.).
Es kommt dann zum entscheidenden Streit zwischen den beiden Figuren. Auch hier ist bereits die Kameragestaltung vielsagend: anstatt das es eine direkte Schuss-Gegenschuss-Montage zwischen zwei Over-the-Shoulder-Schüßen gibt, sind zwei Bilder dazwischen geschoben, welche die Figuren im rechten Winkel zeigen. Dieses stellt nicht nur eine Distanznahme der Kamera dar, sondern kann auch als Verweis auf die Distanz zwischen beiden Figuren gedeutet werden, folglich als Visualisierung der ausgeschlossenen Versöhnung. Entsprechung dieser Distanz ist auch der Höhepunkt des Streites in einer Nahaufnahme umgesetzt, in der beide Figuren gleichzeitig zu sehen sind; jedoch alles andere als vereint.
Es folgt der Angriff des Antagonisten, welcher durch eine klassische Actionmontage umgesetzt ist. Diese wird jedoch durch eine Groß- oder Detailaufnahme jäh unterbrochen: Zu sehen ist die Hand des Täters auf dem Rücken des Opfers, die jedoch - aufgrund der Einstellung - eher sanft haltend wirkt. Hier kommt es also zum Bruch der Distanznahme und zur gegenteiligen plötzlichen Nähe der Kamera sowie der beiden Figuren. Diese beiden Tendenzen münden dann in einen intimen Kuss der Figuren, erneut in einer Großaufnahme aufgenommen. Auffällig auch die Fokussierung auf die Hände, welche die Nähe zwischen den Figuren ausdrücken. Zwischendurch, wenn die Hand der einen Figur das Gesicht der anderen bedeckt, flackert jedoch auch ihre bedrohliche Dimension auf.
Es ist hier auffällig, wie diese filmische Gestaltung den Zuschauer irritieren muss, kommt es hier doch offensichtlich zu diversen Widersprüchen: zwischen der Liebe des Antagonisten zu seiner Frau und seinem Mord an ihr, zwischen den Bildern der Distanzierung und der plötzlichen Nähe, zwischen der grausam zustechenden und sanft streichelnden Hand, zwischen der beinah poetischen Form der Bilder und ihrem grausamen Inhalt. Als mögliche Kompensationsmöglichkeit dieser Widersprüche wird sich - so sei gemutmaßt - der Zuschauer dann an die vorherigen Bildern an erinnern: an den ausweichenden, entrückten Blick des Antagonisten, an den Vorwurf der Frau, er habe seine Aggressionen nicht in den Griff, sowie an die kurz aufscheinenden gewalttätigen, zwingenden Züge in der Figur. Das Ganze kann dann als psychische Störung gedeutet und damit erklärt werden. Durch die Titulierung als verrückt kann diese Tat aus der "Normalität" ausgegliedert werden und so die normierte Auffassung in Bezug auf menschliches Handeln aufrechterhalten werden.
Abseits dieser Anmerkungen ist die Handlung jedoch auch im Hinblick auf den Blutrausch interessant. So kommt es zweifelsohne zu einer emotionalen Überlastung der Figur. Diese könnte dann eben auch unter dem Deutungschema des "Verrückten" gedeutet werden, der z.B. auf das diesseitige Scheitern der Beziehung mit dem Hoffen auf die jenseitige Wiedervereinigung der Familie reagiert oder dergl. Fraglich ist jedoch, inwiefern hier überhaupt rationale Kriterien eine Rolle spielen: die Tat kann auch als reine Affekthandlung angesehen werden (was natürlich die Frage nach dem vorherigen Griff nach dem Messer aufwirft, was aber auch als reines Drohmittel gedeutet werden kann). Der Liebende will die Wiedereinigung mit seiner Geliebten erzwingen, die kein Interesse an dieser hat. So kommt es zum Moment des Eindringens des Liebenden; jedoch ist der Körper des Anderen nicht hingebend geöffnet, sondern muss mit Hilfe etwas Fremden (den anorganischen Objekt) geöffnet werden.
Genau diese wenigen Sekunden sind der Moment des Blutrausches. Die Figur agiert rein körperlich-triebhaft, vorrational; es geht nicht mehr um das umwerbende Spiel, sondern das einseitige Einswerden. Die Kamera weicht diesem Moment aus, sie zeigt nur das aufblitzende Messer, der Antagonist ist unscharf mit wackelnder Kamera dargestellt. Hier offenbart sich also in aller Klarheit (bzw. Unklarheit) das Problem der Subjektivität: Wie könnte der Gesichtsausdruck des Täters aussehen in diesem Moment höchster Ekstase? Denn die Ekstase wird hier ganz konkret: Der Körper verleibt sich ein fremdes Objekt ein und dringt damit zum allerletzten Mal in seine Geliebte ein, es ist - wie bereits erwähnt - der letzte Moment des einseitigen Einswerden. Und auch Anderes wäre interessant: Wie erlebt das Opfer diesen Moment? Wie nimmt es diesen Angriff des Liebhabers wahr, gegen den es sich nicht wehren kann?
Klare Bilder liefert die Kamera erst nach diesem Moment des Rausches. Der Kuss, die zärtliche Hand: Der Antagonist hat den Rausch hinter sich, seine Gefühle entladen und kann jetzt die, sozusagen scheinhaft-oberflächliche, Vereinigung der Umarmung akzeptieren. Das Opfer scheint im Delerium zu sein, der Schock hat ihm jede Handlungsfähigkeit genommen.
Was ergibt sich also abschließend für ein Bild? Durch starke Mimik und durch den Blick ins Leere wird eine innere Handlung der Figur angenommen, ihre Obsession durch Detailaufnahmen der Handlung Liebender offenbart und nur der Moment des Rausches bleibt un-fassbar, unklar. Am Ende der Handlung versucht der Film diesen Moment der Ekstase doch noch darzustellen. Hierfür findet sich eine leicht variierte Anfangsszene, welche den verwundeten Antagonisten zeigt:
Abbildung 3: Schlussszene des Handlungsstranges der Einzelfolge. Quelle: Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014. Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Auch hier findet sich wieder die gelöste Mimik. Jedoch wird diesmal durch einen Gegenschuss das Ziel seines Blickes deutlich. Es ist der, durch dunkle Wolken verdeckte, Himmel. Der Himmel kann hier als Symbol der Erlösung oder für die Hoffnung auf jenseitige Wiedervereinigung gedeutet werden. Er kann in seiner bewölkten Form aber auch als Sinnbild für das Innere des Protagonisten verstanden werden, als etwas, das, wie der Himmel die Wolken, seine nach außen dringenden Taten braucht, um wahrnehmbar zu werden. Also in seiner Raumlosigkeit der Hülle des sinnlich-konkreten Räumlichen bedarf, um darstellbar zu werden. Und sich doch letztlich, wie der Rausch, entzieht.


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