Dienstag, 18. November 2014

"True Detective" (HBO, USA 2014- ) (I)

Anfang dieses Jahres hat die Serie "True Detective" (HBO, USA 2014- ) viel Aufsehen erregt. Sie handelt von der Jagd auf einen Serienmörder durch die Polizisten Rustin „Rust“ Cohle (Matthew McConaughey) und Martin Hart (Woody Harrelson). Sie spielt hierbei zunächst - kurz gesagt - in zwei zeitlichen Ebenen: Auf der einen Seite wird die damalige Jagd auf den Serienmörder präsentiert, auf der anderen Seite sieht man die beiden Polizisten diverse Jahres später in einer Befragung zu dem Ablauf eben dieser Tätersuche. Besonders interessant für das Thema des Rausches ist die Figur Rust, wobei durch die verschiedenen zeitlichen Ebenen gerade seine wechselhafte Drogen- bzw. Suchtkarriere zu Tage kommt. Die Figur wird gleich in den ersten Szenen auffällig eingeführt:
Abbildung 1: Einführung von Rust. Quelle: "True Detective" (HBO, USA 2014- ). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.

Die ersten vier Abbildungen illustrieren den ersten Auftritt Rusts; in dieser Szene erzählt Martin in einer Analepse den ersten Besuch von Rust bei Martins Familie. Auffällig ist, dass man die Figur nur von hinten sieht, anschließend begleitet eine schwankende Kamera den schwankenden Gang der Figur zum Haus. Hierzu erzählt Martin, dass Rust sehr betrunken war und attestiert ihm grundsätzlich einen merkwürdigen Charakter. Hier werden also das Motiv des Außenseiters verbunden mit dem Motiv des Alkoholikers eingeführt. Diese werden dann durch den nächsten Auftritt Rust verstärkt, zu sehen auf den unteren beiden Bildern. Die langen, grauen Haare, der auffällige Bart, die Tätowierungen auf dem Unterarm sowie das Rauchen trotz Rauchverbots unterstützen dieses Bild eines wilden Lebens jenseits normierter gesellschaftlicher Ordnungen. Auffällig auf visueller Ebene ist, dass die Kamera, genau wie bei der Einführung Martins, hier die Optik der diegetischen, minderwertigen Digitalkamera einnimmt, die das Gespräch aufzeichnet. Deutlich zu erkennen ist die Unschärfe am Rand sowie das grobkörnige Bild in Vergleich zu den restlichen Kameraaufnahmen der Serie. Auf der einen Seite erscheint die Kamera durch die simulierte Störung für den Zuschauer dadurch sehr authentisch, als würde es sich bei der Aufnahme um ein reales Artefakt handeln. Auf der anderen Seite bleiben die Figuren in ihrer visuellen Erscheinung so zunächst unscharf und werden mit den hochauflösungen Bildern von ihnen aus dem früheren Zeitstrang konfrontiert; erst später in der Serie wird die Kamera auch in den Verhören die diegetische Kamera und damit die Störungseffekte hinter sich lassen.
Ganz grundsätzlich zeichnet sich die Figur des Rusts durch das markante Schauspiel McConaugheys aus, der der Figur passend zu ihrer inhaltlichen Geschichte einen sehr auffälligen Stil verleiht. Die Figur sticht so innerhalb der Serie als Außenseiter heraus, der ein einsiedlerisches, isoliertes Leben führt und sich auch durch seine Kleidung, seine Haltung etc. inbesondere von seinen Kollegen abgrenzt. Diese verweisen so u.a. immer wieder auf seine Abstammung, da er im Gegensatz zu den anderen aus Texes stammt. Ähnlich auffällig ist der Schauspielstil McConaugheys in Abgrenzung zu der Anlage des Schauspiels der meisten anderen Figuren, auch hier ist der Moment des Bruches und des Abweichens der entscheidende (oberflächlich lassen sich die meisten anderen Schauspielstile als realistisch bis naturalistisch beschreiben).
Erste Andeutungen hierfür zeigen sich in Abb. 1: Man erkennt den starren, stoischen Blick, die versteinerte Mimik und den ausdruckslosen Mund. Diese Ansätze zeichnen sich immer deutlicher sowohl in der Kontrastierung zu den anderen Figuren wie auch zwischen "jüngeren" und "älterem" Rust ab:
Abbildung 2: Gegenüberstellung "junger" und "alter" Rust. Quelle: "True Detective" (HBO, USA 2014- ). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Auffällig sind direkt auf den ersten Blick das abweichende Make-Up (Hautstruktur, Haarfarbe, Tätowierung) und die abweichende Kleidung. In dem Schauspiel selbst finden sich verstärkende Konstanten. So fällt die minimale Mimik auf: die Stirn ist faltenlos, der Mund bewegt sich dezent. Ähnlich die Gestik, die schwerfällig, träge agiert und beim "alten" Rust höchstens durch überkontierte Geste auffällig ist. Dieses korrespondiert mit dem starren, stoischen Blick, der sich auch bei Kopfbewegungen nicht verändert. Dieser Blick vollzieht einen sehr eigenen Stil: So schwankt er zwischen starren Blicken, entweder direkt in das Gesicht des Gegenübers oder ins Leere. Gerade die vielen, "zähen" Blicke ins Leere verweisen auf die Introvertiertheit, die Ausrichtung nach Innen der Figur wie auch des Schauspiels. Die (mutmaßlich) vom sehr hohen und regelmäßigen Alkoholkonsum ausgemergelte Haut erscheint fast ledern. Dieses hängt mit der quasi nicht vorhandenen Mimik zusammen, ebenso mit den im Verlauf der Zeit immer hohleren Wangen und immer tiefer hängenden Augenlidern.
Fast wie bei einem Nussknacker öffnet sich der Mund starr nach unten, hervorquillt eine raue Stimme, der Blick bewegungslos alternierend, wobei er gerade bei den zunehmenden Vorträgen immer öfters starr ins Leere geht. Hier zeigt sich eine immer dickere, zähere, trägere Haut, d.h. allgemeiner eine körperliche Ausprägung, die immer schwerfälliger die inneren Geschehnisse nach außen dringen lässt. Sie werden immer mehr absorbiert vom steinern werdenden Äußeren. Nur der Blick und die Stimme dürfen frei agieren, wodurch sich die Aufmerksamkeit auf sie fokussiert; sie werden dominant bedeutungstragend.
Als mögliche Ursache kann das Versinken in sich selber, in die Betäubung des Alkohols angesehen werden. Der Alkoholiker, als ein solcher der "alte" Rust bestimmt werden kann, hat einen beschleunigten körperlichen Verfall, seine Bewegungen werden träger und oft verliert sich sein Blick ganz im dichten Schleier der zunehmenden Ablagerungen des Alkoholrausches. Nur Überakzentuiertes vermag es diesen Schleier zu durchbrechen.
Diesem Verfall steht die scheinbar ungetrübte geistige Fähigkeit Rusts gegenüber. Entscheidend ist hier eben das Spiel, welches Auge und Stimme in der steinernen Maske entfalten können. Wobei gerade der Blick sein Balancieren auf dem Abgrund präsentiert, wenn er zwischen dem leeren Blick, d.h. des Sturzes in sich selbst, und dem zupackenden, beinah krallenden Blick in das Gesicht des Gegenübers schwankt. Die nach Innen Gerichtetheit kann sich dann in ihrer Pathetik auszeichnen, das nach Außengerichtete in der dramatisierten Darbietung (oftmals banaler) sog. Lebensweisheiten, die dem Anderen als bahnbrechende Einsicht präsentiert werden.
Abbildung 3: Rauschzustände "junger" Rust. Quelle: "True Detective" (HBO, USA 2014- ). Zusammenstellung von Henrik Wehmeier.
Der Bick und die Augen werden entsprechend gerade bei "jungen" Rust zum Hauptmerkmal des Rausches. Der Blick sackt endgültig ab, die Augen werden glasig. Hinzu kommen die Signale der zusammen gesackten Haltung in der einen Szene. Filmisch zeigen sich diese Ernsthaftigkeit sowie die Abgründigkeit bereits beim "jungen" Rust durch den unverkennbaren starren Blick sowie die Abbildung des verdunkelten Spiegelbildes seines Gesichts. Der Konsum von Alkohol, wie auch von anderen Drogen, dient also bereits hier der Betäubung. Es geht weniger um die Verstärkung oder auch die Provozierung euphorischer Gefühle, vielmehr erscheint er als abgestumpfte Persönlichkeit, die die Trunksucht keineswegs zelebriert, sondern eher sachlich gelassen vollzieht.
Weiterhin ist auffällig, wie die genannten Aspekte der Ernsthaftigkeit und der minimalen Mimik gerade durch die zeitliche Konfrontation der beiden Zeitebenen ihre Konnotation verändern. Könnte man sie beim "jungen" Rust durchaus noch positiv deuten, als Zeichen von tiefreichender Intelligenz und Weisheit oder auch als Makelosigkeit des Aussehens (ein möglicher Verweis auf das frühere Image McConaugheys), besteht in Anbetracht des "alten" Rusts kein Zweifel mehr, dass sie Vorboten der gegerbten Haut und des Einsiedlertums sind. Sie verweisen auf eine Figur auf den Weg in den Abgrund, deren Körper wie ein steinerner Kokon in immer dunklere Tiefen herab gezogen wird; die Risse, durch welche Stimme und Augen hevorstrahlen sind im Widerschein der Zukünftigkeit keine Auflösungstendenzen dieses Kokons, sondern gnadenvolle Lichtblicke. Der Rausch ist entsprechend kein Ausbruch, nur Stoß nach unten. 

Freitag, 7. November 2014

"Polizeiruf 110: Familiensache"

Der Polizeiruf vom 02. November 2014 (Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014) bot relativ zu Beginn eine interessante Szene, die eine Art Mischung von Blutrausch und Liebesrausch darstellt - wobei hier gleich eingeworfen sei, dass das Wort "Liebesrausch" insofern problematisch ist, als dass es sich eher um eine pathologische Obsession handelt. Diese mentale Disposition wird gleich in der aller ersten Szene deutlich, die aus einer langen Großaufnahme des Antagonisten besteht:
Abbildung 1: Großaufnahme des Antagonisten. Quelle: Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014. Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Rein dramaturgisches wird hier der Fokus des Zuschauers direkt auf diese Figur gerichtet, ihm wird also eine besondere Rolle im folgenden Film zugeschrieben. Auffällig ist die Statik der Kamera und die Größe der Einstellung: Die Mimik tritt dominant in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Entsprechend ist auch die eigentliche Handlung dieser Szene die Handlung der Mimik, welche als Repräsentant des Innenlebens der Figur angesehen werden kann. Dieses ist nun zweifelsohne eine sehr pragmatische Setzung, ist die Frage nach der Darstellung von Subjektivität gerade in Bezug auf Rausch doch eine deutlich komplexere. In diesem konkreten Fall ist aber auffällig, dass etwas Spezielles in der Figur passiert, sie spannt die Gesichtzüge an, schließt die Augen und öffnet die Augen anschließend mit gelöstem Gesichtsausdruck (vgl. Abb. 1). Der Blick ist hierbei allerdings nicht in die Kamera gerichtet, sondern scheint ins Leere zugehen, was nicht zuletzt daraus geschlossen werden kann, dass die Figur auf dem Boden liegt. Diese kann dann auch schon als Andeutung für die extremene Ausprägung der Emotionen dieser Figur angesehen werden, an der sich diese überzeichnete Mimik abarbeitet.
Diese Extremität der Gefühle zeigt sich dann in einer Szene kurz darauf, in welcher es zum Blutrausch kommt. Die Szene bildet auf der einen Seite das für Krimiserien obligatorische Verbrechen ab, d.h. den eigentlichen Beginn der Handlung. Gleichzeitig stellt es die Eskalation der Vorgeschichte dar, welche versucht, die Motivation der Tat zu fassen und zugleich im ganzen Film in Form von Rückblenden oder als Inhalt der Figurenrede präsent ist. Der Antagonist wurde von seiner Frau verlassen, welche fortan das Sorgerecht für die beiden Kinder hat. Mutmaßliche Ursache sind seine emotionalen Ausbrüche, er selbst reduziert den Grund hierfür jedoch allein auf sein wirtschaftliches Scheitern. Durch den Kauf eines Hauses, das er nicht finanzieren kann, glaubt er nun irrtümlich, die Familie wiederherstellen zu können. In der entscheidenden Szene kommt es zur Konfrontation dieser beiden Perspektiven: Er versucht seine Frau durch die Rede vom Hauskauf zurückzugewinnen, während sie ihm deutlich macht, dass dieses für ihre Beziehung keine Rolle spielt und das Ende ihrer Beziehung für sie logischer Weise endgültig ist. Der Antagonist kann dieses nicht verarbeiten und tötet daraufhin seine Frau und eines seiner Kinder. Es folgt ein Amoklauf gegen die weiteren Mitglieder der Familie. An dieser Stelle soll jedoch die beschriebene Szene behandelt werden. Sie ist sehr aufschlußreich gestaltet, weswegen sie hier umfangreich abgebildet sei:
Abbildung 2: Aussprache und Mord an Ehefrau. Quelle: Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014. Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Gleich zu Beginn der Szene fällt auf, dass ein Motiv der Anfangsszene wieder aufgeriffen wird: Die Figur blickt ins Leere und entzieht sich so dem Blick der Kamera. Die Wahrnehmung richtet sich hierdurch wieder auf das Innenleben der Figur; der Zuschauer kann annehmen, dass hier innerlich etwas passiert. Die folgenden Geschehnisse werden dann auch direkt durch eine Prolepse angedeutet: Man sieht den Protagonisten von hinten, mit zitternder, blutender Hand. Seine Abkehr von der Kamera lenkt den Blick direkt auf die Hand; man ahnt, dass etwas Schlimmes passiert ist, ohne den Blick auf das Gesicht bleibt aber unklar, was genau passiert ist (d.h. ob er sich um Täter oder Opfer handelt etc.).
Es kommt dann zum entscheidenden Streit zwischen den beiden Figuren. Auch hier ist bereits die Kameragestaltung vielsagend: anstatt das es eine direkte Schuss-Gegenschuss-Montage zwischen zwei Over-the-Shoulder-Schüßen gibt, sind zwei Bilder dazwischen geschoben, welche die Figuren im rechten Winkel zeigen. Dieses stellt nicht nur eine Distanznahme der Kamera dar, sondern kann auch als Verweis auf die Distanz zwischen beiden Figuren gedeutet werden, folglich als Visualisierung der ausgeschlossenen Versöhnung. Entsprechung dieser Distanz ist auch der Höhepunkt des Streites in einer Nahaufnahme umgesetzt, in der beide Figuren gleichzeitig zu sehen sind; jedoch alles andere als vereint.
Es folgt der Angriff des Antagonisten, welcher durch eine klassische Actionmontage umgesetzt ist. Diese wird jedoch durch eine Groß- oder Detailaufnahme jäh unterbrochen: Zu sehen ist die Hand des Täters auf dem Rücken des Opfers, die jedoch - aufgrund der Einstellung - eher sanft haltend wirkt. Hier kommt es also zum Bruch der Distanznahme und zur gegenteiligen plötzlichen Nähe der Kamera sowie der beiden Figuren. Diese beiden Tendenzen münden dann in einen intimen Kuss der Figuren, erneut in einer Großaufnahme aufgenommen. Auffällig auch die Fokussierung auf die Hände, welche die Nähe zwischen den Figuren ausdrücken. Zwischendurch, wenn die Hand der einen Figur das Gesicht der anderen bedeckt, flackert jedoch auch ihre bedrohliche Dimension auf.
Es ist hier auffällig, wie diese filmische Gestaltung den Zuschauer irritieren muss, kommt es hier doch offensichtlich zu diversen Widersprüchen: zwischen der Liebe des Antagonisten zu seiner Frau und seinem Mord an ihr, zwischen den Bildern der Distanzierung und der plötzlichen Nähe, zwischen der grausam zustechenden und sanft streichelnden Hand, zwischen der beinah poetischen Form der Bilder und ihrem grausamen Inhalt. Als mögliche Kompensationsmöglichkeit dieser Widersprüche wird sich - so sei gemutmaßt - der Zuschauer dann an die vorherigen Bildern an erinnern: an den ausweichenden, entrückten Blick des Antagonisten, an den Vorwurf der Frau, er habe seine Aggressionen nicht in den Griff, sowie an die kurz aufscheinenden gewalttätigen, zwingenden Züge in der Figur. Das Ganze kann dann als psychische Störung gedeutet und damit erklärt werden. Durch die Titulierung als verrückt kann diese Tat aus der "Normalität" ausgegliedert werden und so die normierte Auffassung in Bezug auf menschliches Handeln aufrechterhalten werden.
Abseits dieser Anmerkungen ist die Handlung jedoch auch im Hinblick auf den Blutrausch interessant. So kommt es zweifelsohne zu einer emotionalen Überlastung der Figur. Diese könnte dann eben auch unter dem Deutungschema des "Verrückten" gedeutet werden, der z.B. auf das diesseitige Scheitern der Beziehung mit dem Hoffen auf die jenseitige Wiedervereinigung der Familie reagiert oder dergl. Fraglich ist jedoch, inwiefern hier überhaupt rationale Kriterien eine Rolle spielen: die Tat kann auch als reine Affekthandlung angesehen werden (was natürlich die Frage nach dem vorherigen Griff nach dem Messer aufwirft, was aber auch als reines Drohmittel gedeutet werden kann). Der Liebende will die Wiedereinigung mit seiner Geliebten erzwingen, die kein Interesse an dieser hat. So kommt es zum Moment des Eindringens des Liebenden; jedoch ist der Körper des Anderen nicht hingebend geöffnet, sondern muss mit Hilfe etwas Fremden (den anorganischen Objekt) geöffnet werden.
Genau diese wenigen Sekunden sind der Moment des Blutrausches. Die Figur agiert rein körperlich-triebhaft, vorrational; es geht nicht mehr um das umwerbende Spiel, sondern das einseitige Einswerden. Die Kamera weicht diesem Moment aus, sie zeigt nur das aufblitzende Messer, der Antagonist ist unscharf mit wackelnder Kamera dargestellt. Hier offenbart sich also in aller Klarheit (bzw. Unklarheit) das Problem der Subjektivität: Wie könnte der Gesichtsausdruck des Täters aussehen in diesem Moment höchster Ekstase? Denn die Ekstase wird hier ganz konkret: Der Körper verleibt sich ein fremdes Objekt ein und dringt damit zum allerletzten Mal in seine Geliebte ein, es ist - wie bereits erwähnt - der letzte Moment des einseitigen Einswerden. Und auch Anderes wäre interessant: Wie erlebt das Opfer diesen Moment? Wie nimmt es diesen Angriff des Liebhabers wahr, gegen den es sich nicht wehren kann?
Klare Bilder liefert die Kamera erst nach diesem Moment des Rausches. Der Kuss, die zärtliche Hand: Der Antagonist hat den Rausch hinter sich, seine Gefühle entladen und kann jetzt die, sozusagen scheinhaft-oberflächliche, Vereinigung der Umarmung akzeptieren. Das Opfer scheint im Delerium zu sein, der Schock hat ihm jede Handlungsfähigkeit genommen.
Was ergibt sich also abschließend für ein Bild? Durch starke Mimik und durch den Blick ins Leere wird eine innere Handlung der Figur angenommen, ihre Obsession durch Detailaufnahmen der Handlung Liebender offenbart und nur der Moment des Rausches bleibt un-fassbar, unklar. Am Ende der Handlung versucht der Film diesen Moment der Ekstase doch noch darzustellen. Hierfür findet sich eine leicht variierte Anfangsszene, welche den verwundeten Antagonisten zeigt:
Abbildung 3: Schlussszene des Handlungsstranges der Einzelfolge. Quelle: Polizeiruf 110: Familiensache, Regie: Eoin Moore, Deutschland 2014. Zusammenstellung Henrik Wehmeier.
Auch hier findet sich wieder die gelöste Mimik. Jedoch wird diesmal durch einen Gegenschuss das Ziel seines Blickes deutlich. Es ist der, durch dunkle Wolken verdeckte, Himmel. Der Himmel kann hier als Symbol der Erlösung oder für die Hoffnung auf jenseitige Wiedervereinigung gedeutet werden. Er kann in seiner bewölkten Form aber auch als Sinnbild für das Innere des Protagonisten verstanden werden, als etwas, das, wie der Himmel die Wolken, seine nach außen dringenden Taten braucht, um wahrnehmbar zu werden. Also in seiner Raumlosigkeit der Hülle des sinnlich-konkreten Räumlichen bedarf, um darstellbar zu werden. Und sich doch letztlich, wie der Rausch, entzieht.


Mittwoch, 5. November 2014

Max Frisch: "Mein Name sei Gantenbein"

Bisher völlig außen vor war das Thema des Liebesrausches. Dieses hat durchaus seine Gründe, fällt es doch gerade bei der Liebe schwer, zwischen "normalem" und berauschtem Zustand zu unterscheiden. Insbesondere die ersten Wochen der Verliebtheit sind zumeist von regelrechten Gefühlschaos geprägt, der Verliebte ist nicht mehr Herr seiner Sinne und gibt sich ganz den eigenen Gefühlen für den anderen Menschen hin. Vielleicht ist hier auch bereits eine Abgrenzung zur eigentlichen, auf Dauer ausgelegten Liebe nötig, die dann doch eher rational als Arbeit angesehen wird. Verwiesen sei nur auf die Ehe als Versprechen für gute wie auch schlechte Zeiten sowie das durchaus einträgliche Geschäft der Paartherapeuten. Auch wenn hier wiederum die Grenze zur pragmatischen Beziehung verwischt, so scheint diese so ganz ohne romantische Gefühle dann doch nicht auszukommen.
Entsprechend kann man wohl auch den Großteil der Literatur, in welche das Sujet der Liebe vorkommt, im Hinblick auf den Liebesrausch untersuchen. Trotz der sehr großen Menge an Literatur, auf die man hier voraussichtlich stößt, würde ich doch mutmaßen, dass der Begriff des Liebesrausches eher selten vorkommt. Einer dieser eher seltenen Fälle stellt der Roman Mein Name sei Gantenbei von Max Frisch dar, von dem in diesem Beitrag ein Ausschnitt behandelt werden soll. Der Roman selbst, erschienen 1964, fällt durch seine ungewöhnliche Form auf: Der Erzähler probiert in loser Aneinderreihung, wie er selbst schreibt, Geschichten wie Kleider an. Konkret imaginiert er verschiedene Identitäten und spielt diese durch. Es geht um die Frage, wie sich die konkrete Erfahrung mit übergeordneten Erzählung vereinbaren lässt, letztlich also um die Frage nach den Zusammenhang von Sprache bzw. Identität und Welt. In einem dieser Identitätsentwürfe geht es nun um den Lebensrausch. Der Abschnitt ist etwas länger, soll hier jedoch in Gänze wiedergegeben werden, da sehr interessante Gedanken zum Thema (Liebes)Rausch enthält:

"Eine Geschichte für Camilia:
   Ein Mann und eine Frau, als der erste Rausch der unpersönlichen Liebe verrauscht war, erkannten, daß sie wie für einander geschaffen waren. Sie verstanden einander so trefflich. Nur war der Rausch eben verrauscht. Und so lebten sie zusammen, nicht übermütig, aber ohne Zerwürfnisse. Nur manchmal geschah es, daß er die Umarmung, während sie stattfand, wie von außen sah, als sitze er in einem Sessel daneben oder als stehe er grad am Fenster, er hatte Gedanken, wie wenn man auf die Straße hinausschaut, also keine schlimmen, aber Gedanken, dann wieder war er eins mit sich und mit ihr, und später, wenn wenn sie einen Tee kochte, rief er sie mit ihrem Kosenamen, und als sie den Tee eingoß, sagte er, daß er sie liebe. Es war durchaus wahr. Und ihr ging es wahrscheinlich ebenso. Auch sie liebte ihn, nur ihn, wenn auch anders als im Anfang, persönlicher, Sie waren unzertrennlich, sie reisten zusammen. Einmal, in einem Hotel, war er bestürzt, als er die Umarmung, während sie stattfand, in einem Spiegel sah, und froh, daß es sein Körper war, mit dem sie ihn betrog, und er schaute in den Spiegel, in dem er sie ebenso betrog. Es kam zu Krisen über Lappalien. Dabei liebten sie einander. Eines Abends, später, saß er eine Zeitung lesend, während sie im Bett lag; er hatte Gedanken, alltägliche, wie er sie manchmal in der Umarmung heimlich hatte, aber er saß tatsächlich in dem Sessel; sie schlief, er konnte sich, von jenem Spiegel belehrt, ohne weiteres vorstellen, wie ein andrer sie umarmt, und saß daneben, keineswegs bestürzt, eher froh um die Tilung seiner Person, eigentlich heiter: Er möchte nicht der andere sein. Zeitung lesend, während sie schlief und vielleicht träumte, was er sich von außen vorstellte, war er eins mit seiner großen Liebe. Sie hießen Philemon und Baucis: Das Paar."
(Quelle: Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Suhrkamp Taschenbuch 286. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1975. S. 211.)

Gleich zu Beginn befasst sich der Abschnitt mit dem Thema des Liebesrausches: So wird dieser als "unpersönliche" Liebe aufgefasst, die "verrauscht". Schon durch die unbestimmten Artikel zu Beginn wird deutlich, wie fremd sich die Liebenden zu Beginn ihrer Liebe eigentlich sind. Sie berauschen sich letztlich an den eigenen Gefühlen, wobei der Andere zunächst einmal nichts anderes als Projektionsfläche ist - so würde ich das Unpersönliche auffassen. Es folgt die Erkenntnis der Ähnlichkeit, also der Übergang in den Status einer Beziehung, die eher von rationalen Überlegungen geprägt ist. Interessant hier die Doppeldeutigkeit des verrauschens: Ganz sinnbildlich belegt kein affektives Rauschen mehr die Wahrnehmung, der Blick wird klar.
Entsprechend wird der Verlauf der Beziehung beschrieben: Man versteht sich trefflich und lebt ohne Zerwürfnisse. Die neue Pragmatik zeigt sich in den parataktischen, kurzen Sätzen, und erfährt dann ihre erste Erschütterung, rein sprachlich durch einen nicht enden wollenden Satz ausgedrückt. Fasst schon im Stile des Bewusstseinsstroms versucht der Erzähler das eigentlich nicht zu fassende zu beschreiben, und zwar die Aufspaltung des eigenen Ichs. Der Moment der größten Intimität wird wie von außen erlebt, die Unmittelbarkeit geht verloren und so verflüchtigt sich nach dem emotionalen Rausch auch noch der körperliche Rausch. Stattdessen befallen ihn die als regelrecht wesenslos und unumgänglich auftauchenden Gedanken, d.h. er gibt sich dem Intellektuellen statt dem Körperlichem hin. Der Liebesspruch, in der Idylle des Teekochens, scheint jegliche Romantik abgestreift zu haben.
Entsprechend ist er auch nur "durchaus" wahr. Ebenso tritt die doppelte Bedeutung des Unzertrennlichen hervor als Gefangen sein und also als Verlust der Eigenständigkeit. Selbst die Reise, also der Moment des Ausbruches, wird zusammen vollzogen. Es folgt der erneute (sprachliche) Ausbruch, die Spiegelung der Umarmung entsetzt ihn. Es bleibt ein bisschen die Frage, was hier eigentlich das Entsetzende ist: Die Art wie sie vollzogen wird? Oder die Erinnerung an die zuvor erfahrene Distanz und Entfremdung auf körperlicher Ebene? Zumindest ist der noch froh, dass es kein Anderer ist.
Interessant ist hier der Rückgriff auf das Motiv des Spiegels, welches ja schon bereits mehrfach in seiner engen Verbindung zum Rausch deutlich wurde. Auch hier tritt das Spiegeln wieder als Ernüchterung auf, als Gegenpol zum Rausch. In dieser Szene wird er genutzt um zu zeigen, wie weit sich das denkende Ich vom körperlichen bereits entfernt hat. Die Doppelung wird hier als Aufspaltung zwischen Innerlichem und Äußerlichem genutzt.
Kurz darauf entfaltet der Erzähler dann die umfassende Bedeutung dieser Spiegelerfahrung: Der Liebende nutzt sie regelrecht, um sich vorzustellen, wie er durch einen anderen ersetzt wurde. Folgerichtig ist er froh um diese Tilgung, tilgt sie doch nur das Körperliche aus, von dem er sich längst distanziert hat. Der Text vollzieht dann jedoch eine interessante Wendung. Anstatt dass dieser Vorgang zur endgültigen Trennung zwischen beiden wird, wird er zur Verbindung, da es mutmaßlich in beiden strukturgleich vorgeht. Etwas unklar ist mir, was genau die Geliebte träumt; mutmaßlich von der Beziehung mit einem Anderen in weniger distanzierter Weise.
Dieses würde dann das endgültige Ende des Rausches erklären. Statt sich an den eigenen Gefühlen berauschen zu wollen, hat man die Verbindung in eine pragmatische Beziehung transformiert. Die Einsicht, dass das Körperliche in dieser nicht mehr notwendig etwas Exklusives ist, da das Verbindungsglied der Liebe zwischen beiden auf ganz anderen Aspekten beruht, ist in diesem Sinne nur logisch. So kann die Liebe auch im Moment des Betrugs groß sein. 
Offen bleibt hier nur, worin sie eigentlich Einswerden: in dieser gemeinsamen Einsicht? Oder in der Einsicht in die Unsinnigkeit des emotionalen Rauschens, welches durch die falsche Spiegelung der Körper die wahre Spiegelung verdeckt: und zwar die Spiegelung des gemeinsamen Denkens und Lebens, d.h. die Ähnlichkeit zwischen ihnen. In diesem Sinne könnte die Beziehung beispielhaft für eine nicht mehr romantische Stehen, für eine andere Art der Zuneigung, jenseits des Rausches.
Alternativ kann diese Wendung auch als resignative, illusionäre gelesen werden: Die Vereinigung verstanden als lediglich imaginierte. Erzählung und Erlebnis fallen nicht mehr in eins. So ist noch die Rede von Philemon und Baucis, die als Sinnbild des harmonischen Paares angesehen werden. Doch schon die Interpunktion verweist auf den losen Zusammenhang zwischen diesem idealisierten Konzept und der Rede vom Paar. So schwebt die Zweisamkeit im Vakuum, so ist aus Rauschen Stille geworden und aus dem erlebten Fühlen eine fremdes Spiegelbild. So werden die alltäglichen Handlungen zu Handlungen von Liebenden, doch inmitten dieser klafft ein Abgrund: Der Sturz ins eigene Ich, das seine Äußerlichkeit, d.h. seine Verlängerung in die Welt, austilgen will und spürt, wie die gemeinsame Liebe als etwas Vergangenes in die Gegenwart reicht, in der es aber letztlich keinen Halt mehr findet. Außer in der tradierten Erzählung: Philemon und Baucis.